Prostata et cetera

Heute, am meteorologischen Frühlingsanfang, hat die Welt sich neu für mich eröffnet. Im Jahr 1985 fühlte ich mich schon einmal so. Damals fuhr ich auf der Autobahn von Eisenach Richtung Schlema, um die Großmutter zu besuchen. Unterhalb der Hörselberge kam ich mit Tempo 85 von der Fahrbahn ab und prallte gegen einen noch elastischen Baumstamm. Mein Trabi überschlug sich und landete mit Totalschaden auf dem Dach.

In jedem Moment des Unfalls bei vollem Bewusstsein, dachte ich: Jetzt kommt es ganz schlimm. Als ich kopfunter im Sicherheitsgurt hing und sich um mich herum nichts mehr regte, dachte ich: Bloß raus hier, bevor ich in die Luft fliege. Ich kam los, kroch durch das Loch, das die zerplatzte Glasscheibe der Fahrertür hinterlassen hatte und saß keine Minute später mit einer Schramme am Knie und einem Cut an der Augenbraue auf einer leicht abschüssigen Weidewiese. 200 Meter weiter wäre ich in beträchtliche Tiefe gestürzt.

So klar hatte ich mein Lebensende noch nie vor Augen und war bis dahin nur einmal in ähnlich großer Gefahr, als ich, eineinhalb Jahre alt, an einer sehr spät erkannten Blinddarmentzündung fast gestorben wäre.

Im vergangenen November sprach ein Urologe auf einen PSA-Wert von 7,5 hin einen Krebsverdacht aus. In verschiedenen Vorsorgeuntersuchungen war er noch nie so hoch gewesen. Ich war schockiert und der Arzt riet zu einer sofortigen Biopsie der Prostata, die ich instinktiv verweigerte.

Ermutigenderes sagte mir ein lebenserfahrener Mediziner und guter Freund, den ich zu Rate zog. Erst einmal erklärte er mir, dass der PSA-Wert bei einem vorhandenen Karzinom zwar ein wichtiger Marker ist, ohne es aber, ganz gleich wie hoch, keinen Prostatakrebs indiziert. Im Internet las ich von einer nur etwa 40-prozentigen Wahrscheinlichkeit, das Vorhandensein eines Karzinoms mit der Biopsie zu klären und, was der Urologe verschwiegen hatte, über eine inzwischen häufig angewendete körperschonende spezielle MRT-Untersuchung, die allerdings in Deutschland nur Privatpatienten von ihren Krankenkassen bezahlt bekommen. Nach und nach entdeckte ich ein ganzes Bündel harmloserer Ursachen für einen zu hohen PSA-Wert, nicht zuletzt – so wie bei mir seit 20 Jahren festgestellt – die altersbedingt vergrößerte Prostata ohne bösartiges Gewebe.

Da hatte ich also wieder eine sehr konkrete Ursache für ein beschleunigtes Lebensende vor Augen. Bisher vom Unglück großzügig umgangen, konnte ich diesen Worst Case aus fast heiterem Himmel nicht akzeptieren. Beschwerden hatte ich ja mit meiner vergrößerten Prostata noch nie. So lauschte ich drei Monate lang tagtäglich in mich hinein und sammelte entlastende Indizien gegen den Krebsverdacht. Je näher der Tag einer erneuten Messung des PSA-Werts allerdings rückte, desto mehr löste sich die eingesammelte Zuversicht wieder auf.

(Interessant wären Untersuchungen, ob schon im Frühstadium eines Karzinoms ein Körpergefühl dafür existieren kann oder nur eingebildet ist – so wie unsere inzwischen auf molekularer Ebene nachgewiesene Wechselwirkung mit der Umgebung bei einem Waldspaziergang noch bis vor Kurzem als esoterische Spinnerei und Humbug abgetan wurde.)

Heute erfahre ich nun, dass der Wert inzwischen auf 5,1 gesunken ist. Zwar ist das nicht nur für den Urologen keine Entwarnung aber auch kein belastbarer Hinweis auf das noch im November befürchtete Karzinom. In acht Monaten wird es die nächste Untersuchung geben aber zuvor weder Biopsie noch MRT. Zuvor gibt es Frühling und Sommer mit vielen Vorfreuden, und ich muss mich bremsen, um nicht voller Überlebensmut aus meinem Oberstübchen zu hüpfen.

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