Samstagmorgen im Oberstübchen

Heute gegen zwei Uhr nachts bin ich schlafen gegangen. Früher hätte keinen Sinn gehabt, denn so wache ich nur zweimal kurz auf und beim dritten Mal, gegen Neun, ausgeruht genug, um aufzustehen. 13 Grad zeigt das Celsius-Thermometer.

Für morgendliche Fitnessläufe, die ich mit dem Übergang ins Rentenalter vor neun Jahren eingeführt habe – dreimal in der Woche drei Kilometer lang – ist das die ideale Temperatur. Ohne die Läufe fühlte ich mich gewiss nicht mehr so wohl in mir. Von ‚genießen‘ will ich nicht reden, aber ich spüre jedesmal, wie wichtig diese Kreisläufe für den sind, von dem mein Leben abhängt. Bei keiner anderen Tätigkeit bin ich 20 Minuten lang so konzentriert mit mir und der unmittelbaren Umgebung beschäftigt. Gewissenhaft horche ich einwärts, nehme das Zusammenspiel von Körperteilen und Organen wahr und beobachte zugleich Entgegenkommende, mich Überholende und das Stadtgrün rechts und links des FußRad-Weges, der den hauptsächlichen Teil der Strecke bildet und früher ein Eisenbahngleis war.

Das anschließende Wannenbad ist dann tatsächlicher Genuss. Danach bereite ich mir Frühstück mit einem weichgekochten Ei, zwei Brötchenhäften, die ich meist mit Speisequark und Pflaumenmus auf „ProActiv“-Margarine bestreiche. Dazu viertele ich eine Rispentomate mit einem Restgeschmack aus Zeiten, als die Beerenfrucht aus dem mittelamerikanischen Maya-Land noch ein sehr aromatisches Gemüse war. Dazu trinke ich eine Tasse mit heißem Wasser aufgebrühtes Schoko-Cappuccino-Pulver und ein Glas kühlschrankkalte Milch.

Dazu sehe ich heute Zeitungen, Flyer und Kataloge durch, die ich gestern von der Buchmesse mitgebracht habe. Drei Jahre lang fand die Leipziger Buch- und Lesemesse wegen der COVID-19-Pandemie nicht statt. Sie ist auch weiter in Gefahr, denn den Medienkonzernen in den alten Bundesländern, die den Büchermarkt beherrschen, reicht die Frankfurter Buchmesse für ihre Geschäfte völlig aus.

Nach 10 Uhr an höre ich im Deutschlandfunk „Klassik-Pop-et cetera“, die schönste wöchentliche Radiosendung der Welt. Das erste Mal wurde sie am 7. Oktober 1974 ausgestrahlt, am 25. Geburtstag der DDR. Seitdem wird sie mit einer Komposition von Horst Jankowski eröffnet, in meinen grauen Zellen ein ähnlich verlässlicher Ohrwurm wie seine „Schwarzwaldfahrt“. Dieses Instrumental wurde 1965 ein Welthit und brachte dem Komponisten sagenhafte 125 D-Mark ein, denn die Rechte daran hatte er zuvor für eben diese Summe an einen amerikanischen Produzenten verkauft.

Heute erzählt die Dirigentin Joana Mallwitz von sich. 1986 in Hildesheim geboren, wurde sie mit 27 Jahren in Erfurt die jüngste Generalmusikdirektorin Europas. Jetzt ist sie designierte Chefdirigentin des Konzerthausorchesters Berlin. Zu ihrer Musikauswahl gehört Elvis Presleys „A little less conversation“ ebenso, wie Ausschnitte aus den Operetten „Die lustige Witwe“ von Franz Lehár und „Frau Luna“ von Paul Lincke.

Sogleich sind Erinnerungen an meine Eisenacher Theaterzeit da, besonders an die Regisseuse Erika Solbrig, die mir – einem musikalisch eineinhalb Jahrzehnte lang ausschließlich von Jazz, Chanson und Beat Geprägten – mit fabelhaftem Geschick den Schlüssel in die Welt der Oper und Operette in die Hände spielte.

Mit Nina Simones „I wish I knew how it would feel to be free“ und der Queen of Soul Aretha Franklin mit „Skylark“ klingt die Sendung aus. Es ist ein Auftakt in ein langes Wochenende – der nächste Montag ist der erste Mai – wie ich ihn schöner mir nicht wünschen kann …

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