“Das Salz der Erde”

„Ihr seid das Salz der Erde“, sprach der Wanderprediger Jeschua Ha-Nozri auf seiner Vortragsreise durch Galiläa und Judäa zu denen, die statt seinen Worten ihm selbst gefolgt waren. In einer eindringlichen Rede ließ er sie wissen, dass ihnen, sollten sie nicht in Schönheit verhallen, Taten würden folgen müssen, ihre Taten.

„Das Salz der Erde“ nennt der Regisseur Wim Wenders 1.200 Jahre später eine filmische Hommage auf den 1944 in Brasilien geborenen Fotografen Sebastião Salgado, die sich auch als erschreckende Bilanz seit jener christlichen Initiative sehen lässt. Salgado hatte in der Heimat Wirtschaftswissenschaften studiert, 1967 die Pianistin Lélia Deluiz Wanick geheiratet und mit ihr die Militärdiktatur in seinem Land bekämpft, vor der sie 1969  nach Paris emigrierten. Dort promovierte er und entdeckte, als seine Frau ihm eine Kamera schenkte, auf Afrikareisen im Auftrag der Weltbank seine Liebe zur Fotografie. Seit den 1980er Jahren dokumentierte er in erschütternden Bildprojekten Bürgerkriege und Hungersnöte in der Dritten Welt. Er wurde krank am Menschenleid und überlebte in den  noch nicht vom Homo faber infizierten Gegenden der Welt, auf den Galápagos-Inseln, in Sibirien, im brasilianischen Dschungel.

„Salt Of The Earth“ ist der letzte von zehn Songs auf der LP „Beggars Banquet“, mit der die Rolling Stones im Dezember 1968 die vielleicht reifste und kreativste Leistung ihrer Bandgeschichte ablieferten. Mit „Sympathy For The Devil“ verklammert der Song so sensationelle Unikate wie „No Expectations“ (Keine Aussicht), „Street Fighting Man“ (Straßenkämpfer) und „Stray Cat Blues“ (Streunende Katze). Der Song gibt sich hymnisch, aber so wenig wie Jeschuas Predigt ist er ein Hohelied auf die einfachen Leute. Keith Richard beginnt:

Let’s drink to the hard-working people
Let’s drink to the lowly of birth
Raise your glass to the good and the evil
Let’s drink to the salt of the earth

(Lasst uns trinken auf die schwer arbeitenden Menschen
Lasst uns trinken auf alle gering von Geburt
Hebt das Glas auf die Guten und Bösen
Lasst uns trinken auf das Salz der Erde)

Mick Jagger übernimmt den Vokalpart mit der zweiten Strophe:

Say a pray’r for the common foot soldier
Spare a thought for his backbreaking work
Say a pray’r for his wife and his children
Who burn the fires and who still the earth

(Betet für den einfachen Infanteristen
Denkt an sein rückgratzerbrechendes Werk
Betet für seine Frau und seine Kinder
Die das Feuer unterhalten und die Erde bestellen)

In der dritten wird er überraschend zweiflerisch:

And when I search s faceless crowd
A swirling mass of gray and black and white
They don’t look real to me
In fact they look so strange

(Und sehe ich eine gesichtslose Menge
Eine brodelnde Masse aus Grau und Schwarz und Weiß
Für mich sehen sie nicht wirklich aus
Ihr Aussehen ist wirklich fremd)

Diese Strophe wird als einzige wiederholt und bringt die sechs hymnischen in ein ent-täuschendes Gleichgewicht, mit dem der Song aber nicht zerfällt und im Schlussteil mit dem Los Angeles Watts Street Gospel Choir und einer grandiosen Klavierpassage des Rockpianisten Nicky Hopkins auch nicht ausufert.

Warum aber Mick Jaggers verstörende Bedenken? Hält er sich für etwas Besseres oder hat er Angst, sich gemein und die Hände schmutzig zu machen? Befürchtet er, im stupiden Einklang mit der ominösen Masse seine Stimme zu verlieren? Lange habe ich es so gedeutet und mir die Mühe erspart, nach dem Grund eines seit der Kindheit eigenen Unbehagens zu suchen, das mich stets abgehalten hat, mit den Wölfen zu heulen, mit einer Menge zu ziehen, in Jubel oder auch Empörung einzustimmen.

Den Grund dafür fand ich in einem tief innen vorhandenen und von Lebenserfahrung beständig genährten Misstrauen in jede Art von Stärke, die sich auf andere beruft und die wie Fackelschein lichte Momente in unsere Umnachtungen reißen mag, unsere Abgründe aber weder tilgt noch umgeht: Weil ihr im Grunde der Selbstwert fehlt, ohne den es keine vernünftige Richtung gibt, in die sich guten Gewissens gehen lässt.

In einem Londoner TV-Studio realisierte Michael Lindsay-Hogg im Dezember 1968 das Filmprojekt „Rolling Stones Rock And Roll Circus“ mit Bands wie Jethro Tull und The Who, mit der extra für diesen Film zusammengestellten Super-Band The Dirty Mac mit John Lennon, Eric Clapton, Keith Richard und Mitch Mitchell, mit Gesangsnummern von Marianne Faithfull und Yoko Ono, mit echten Artisten und natürlich mit den Rolling Stones, die fünf Titel spielen. „Salt Of The Earth“ ist der finale Song des Events, mit dem sich die Akteure unter die Zuschauer mischen, die keine bedenkliche Masse sind, sondern ein ausgesuchtes und inszeniertes Publikum. Auch wenn Mick Jagger mit dem Film als Ganzem so unzufrieden war, dass er erst 1996 öffentlich werden konnte, wird ihm diese Sequenz von Anfang an gefallen haben.

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