anders lernen

Menschen lernen. Geistig und körperlich. Charakterlich und sozial. Bewusst und unbewusst. Gemeinsam und im Kämmerlein. Menschen lernen Verhalten, Denken und Fühlen. Dass wir uns finden und im Leben zurecht.

Ursprünglichste Form des Lernens ist das Spiel und zugleich seine kreativste. Kinder entdecken vom ersten Tag ihres Lebens an spielend die Welt. Mit Neugier erlernen sie ein Bild von der Welt. Von Ferne und Nähe. Von Vielfalt und Wandel. Von sich und Gemeinsamkeit.

Im Laufe der Zeit hat das Lernen sich systematisiert und institutionalisiert, heran an die Fragen, was es mit uns auf sich hat und wie es mit uns weitergehen kann. Mit unseren Lebensweisen. Mit unseren Selbstbildern. Leider immer häufiger bleibt dabei die Kreativität auf der Strecke. Das Spielerische. Die Intuition. Gern erklären wir das mit dem Eile und Ernstfällen, Bedrohungen, Abhängigkeiten. Mit dem dominanten Bedürfnis nach Sicherheit und Stabilität.

William Godwin, ein treuer Verbündeter, war von der Notwendigkeit überzeugt, ein System, das sich in Bildungs- und Erziehungsanstalten manifestiert, einzuschränken: „Sie mögen zur Zeit ihrer Etablierung die Verwirklichung der allergrößten Wohltaten nach sich gezogen haben“, schrieb er 1793 in seinem Hauptwerk „Untersuchung über politische Gerechtigkeit und ihren Einfluss auf Moral und Glück“, aber: „Je länger sie dauern, desto nutzloser müssen sie unvermeidlich werden. Dabei ist, sie als nutzlos zu bezeichnen, noch ein sehr schwacher Ausdruck für ihre Mängel. Sie wirken aktiv auf eine Unterdrückung der Gedankenflüge hin und fixieren den Geist in seinem Glauben an die Irrtümer vergangener Zeiten.“

Godwin hatte die blutige Radikaldemokratie der ersten französischen Revolution und Jean-Jacques Rousseau‘s Staatsphilosophie vor Augen, die eine komplette Unterordnung des Einzelnen unter den Staatswillen verlangte und sah voraus: „Die Ansichten, die Regierungsbeauftragte als Initiatoren eines Erziehungssystems vertreten, werden sicherlich denen analog sein, die sie in ihrer politischen Funktion bejahen: Die Daten, auf die sie ihr Verhalten als Staatsmänner stützen, werden auch die Daten sein, auf denen sie ihr Erziehungssystem gründen.“

Das ist plausibel, denn was hätten Staatsmänner für ein Interesse daran, dass ihre Staatsbürger über die Reproduktion der Verhältnisse hinauswachsen und sie und ihre Repräsentanten in Frage stellen? Also sorgen sie nachdrücklich für ein Bildungssystem, das die herrschenden Verhältnisse und ihre Position stabilisiert. Allerdings verlernen Bewahrer und Konformisten, ein systemischer Effekt, ihre Kreativität und sind deswegen schon bald nicht mehr in der Lage, veränderte Umstände und neue Situationen abzuwenden.

Godwin entschied, seine Kinder – darunter Mary, die den Dichter Persey Shelley heiraten und den Roman „Frankenstein“ schreiben sollte – keiner staatlichen Schule zu überlassen. Er bildete und erzog sie lieber selbst. Das war damals und bis heute außergewöhnlich und exklusiv.

Inzwischen sind die technischen Möglichkeiten vorhanden, auch daheim ein brauchbares Allgemeinwissen zu erlangen. Tatsächlich könnten Schulen heute Stätten werden, an denen nicht mehr zuerst daran gedacht werden muss und auch nicht an die Absicherung der bestehenden Verhältnisse. Anstatt in ihnen – jahrhundertelang praktiziert – Neugier, Kreativität und Gemeinschaftssinn in die Knie zu zwingen, könnten in ihnen Menschen mit der Fähigkeit reifen, zukunftsfähig zusammenzuleben und Nöte und Konflikte komplex zu bewältigen.

Am Besten aber, es entstünden dort, wo sie heute stehen, lichte und luftige Bauwerke mit einer unmittelbaren dazugehörigen lebendigen Umgebung, in denen sich Körper und Seele ausbreiten können und die vielen verlockenden Egoismen eingrenzen lassen. Dann käme es nicht mehr auf auswendig Gelerntes an, nicht mehr auf ‚richtige‘ Antworten, sondern auf das Finden von richtigen Fragen. Dann verlöre das Lernen den Gleichschritt und würde zu einem vertieften Selbst, das kompatibel für kleine und große Gemeinschaften ist.

An solchen Orten würde nicht mehr beschult, sondern Leben erlernt. Es würde diskursiv gedacht, erwogen, besprochen, gestaltet und intuitiv gegangen, gehüpft, gesprungen, berührt, entspannt und ausgeruht. Es würde aufeinander geachtet, inmitten von Lehrenden, die keine Belehrer und keine Diktierer mehr sind aber jederzeit Zugängliche und zu bestimmten, verabredeten Zeiten Weisende und Mittler und idealerweise Weiterlernende.

Die Chance, dass aus diesem und ähnlichen Konzepten mehr als nur ein paar Inseln der Hoffnung entstehen, ist in pandemischen Zeiten vielleicht so groß wie nie zuvor.

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