„Unser Gehirn sitzt in seiner dunklen Knochenhöhle, hat erst mal keine Ahnung von der Welt da draußen, muss sich seine Vorstellung von dieser Welt aus unzuverlässigen Sinnesdaten erschließen und dabei auch noch mit Unsicherheiten jonglieren“, schreibt der Neurologe Philipp Sterzer, Jahrgang 1970, in seinem Buch „Die Illusion der Vernunft“. Aus den Sinnesdaten und Unsicherheiten macht das Gehirn mit Hilfe von Veranlagungen und Erfahrungen ein Bild von der Welt. Mein Bild von der Welt.
Aus Sterzers Ansatz folgt, dass ich niemals die Welt, wie sie wirklich ist, wahrnehmen kann. Mit zwei besonderen Fähigkeiten – mein bewusstes Selbst und meine Phantasie – kann ich das einigermaßen kompensieren und mein Weltbild der Wirklichkeit häufig ganz gut annähern. Je besser, desto lebensfähiger bin ich. Das ist meine These.
Das ist kein Grund zur Euphorie, denn nicht zufällig steht die Überschrift im Plural. Wie bei einem Fingerabdruck ist es nämlich unwahrscheinlich, dass von acht Milliarden Menschen auch nur zwei die gleichen Weltbilder haben. In diesem Sinne sind wir alle voneinander verschieden, dadurch aber auch alle wieder gleich. Diese Gleichheit spannt sich wie ein Schirm über uns auf: über einen endlichen Lebensraum und über ein dauerhaftes Aufeinander-angewiesen-Sein. Hilfreich ist auch, dass unsere Weltbilder sich oft nur in Nuancen unterscheiden. So lassen sie sich in wenige große Gruppen zusammenfassen. Das ist gut.
Schlecht ist, dass auch kleine Unterschiede große und existenzielle Konflikte auslösen können: Konflikte mit uns selbst; Konflikte zwischen uns; Konflikte mit der Wirklichkeit. Hängt unsere Lebensfähigkeit von der Nähe der Weltbilder zur Wirklichkeit ab, haben wir vielleicht auch die Fähigkeit, Konflikte aufzulösen, anstatt immer wieder unter ihrer Eskalation zu leiden.
Als die meisten Menschen die Erde für eine Scheibe hielten, bestimmte das NON PLUS ULTRA – bis hierhin und nicht weiter! – die Weltbilder. Dann fanden besonders Mutige heraus, dass es weder keinen Rand noch dahinter einen Abgrund gab und das PLUS ULTRA – und darüber hinaus! – wurde zum Motto des Daseins. Kaiser Karl V. schrieb es im 16. Jahrhundert als imperiale Anmaßung in sein Wappen. Die Verantwortung, die das für sein Handeln bedeutete, (er)trug er schlecht.
Neuerdings bekommen wir zu spüren, dass eine kugelige Erdoberfläche, die unseren Sinnen unendliche Weite vortäuscht, viel gefährlicher sein kann, als ein Scheibenrand. Sie setzt uns unsichtbare Grenzen, die sich aber messen und kalkulieren lassen. Ignorieren wir sie, tun sich, scheinbar aus dem Nichts heraus, sehr konkrete Abgründe auf. Sie heißen Ukrainekrieg, Gazagemetzel, Klimawandel und Geschichtsverlorenheit, die uns die Zukunft kostet.
„Ich mach mir die Welt / Wiedewiede wie sie mir gefällt“, singt Pippi Langstrumpf. Das ist ein nach wie vor sehr populäres Lebensmotto. Zugleich ist es eine kindische Illusion, denn um lebensfähig ohne unbegrenzte Ressourcen und ohne konsequente Rücksichtslosigkeit ist dieses Weltbild unrealistisch. Es ist kaum näher an der Wirklichkeit, als die heute oft belächelten historischen.