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Vom Invalidenplatz aus ging und fuhr ich an jenem 3. Juni auf direktem Weg zu einer Veranstaltung zu Ehren des Berliner Theaterwissenschaftlers Joachim Fiebach in die „Kulturbrauerei“ im Prenzlauer Berg. Mein Freund Andreas war einer der dort Vortragenden, ebenso Stefan Suschke, der Anfang der 1980er Jahre bei Fiebach studierte. Anschließend wurde er Schauspieldramaturg in Greifswald bis zum Ende der DDR, in den 1990er Jahren ein enger Mitarbeiter des Dramatikers und Regisseurs Heiner Müller und von 1997 bis 1999 künstlerischer Leiter des Berliner Ensembles. Zur Zeit ist Suschke Schauspieldirektor am Landestheater Linz.

Am 16. Juni veröffentlicht die „Berliner Zeitung“ im Rahmen ihrer ‚Open-Source-Initiative‘ unter der Überschrift „Wir werden von Leuten regiert, die keine Ahnung vom Krieg haben“ einen Beitrag von Suschke, in dem er den bis Mitte der 1950er Jahre Jean-Paul Sartre und Simone de Beauvoir eng verbundenen französischen Philosophen Maurice Merleau-Ponty zitiert:

„Was aber in Wahrheit gefährlich ist und die Zivilisation bedroht, ist nicht, daß man einen Menschen wegen seiner Ideen tötet (das ist in Kriegszeiten oft getan worden), sondern daß man dies tut, ohne es sich einzugestehen und ohne es zu sagen, sondern der revolutionären Gewalt die Maske des Strafrechts aufsetzt. Dadurch, dass man die Gewalt verbirgt, gewöhnt man sich an sie und institutionalisiert sie.“

Suschke schreibt:

„Es geht also um das, was man landläufig als „Ehrlichmachen“ bezeichnet. Ehrlich machen heißt, die geopolitischen Ziele des Westens offenzulegen. Das kann sich nicht im Vorzeigen eines ideologisch verbrämten Freiheitsbegriffes erschöpfen. Zur Ehrlichkeit gehört auch eine Kostenrechnung, welche die Politik bisher schamhaft vermieden hat. Wenn klar ist, wie viel der Ukrainekrieg jeden Einzelnen kostet, wird das Nachdenken endlich auf ordentliche kapitalistische Füße gestellt.“

Und:

„Wir sollten, weil die westliche Welt sich auch in einem ideologischen Konflikt befindet, endlich eingestehen, dass die Regierenden genauso Propaganda betreiben wie der Gegner, ‚der Russe‘: Herr Pistorius, der die Kriegstauglichkeit der Armee beschwört, Frau Stark-Watzinger, die Schüler besser auf den Krieg vorbereiten möchte, Zeitungen wie FAZ, Zeit und Spiegel, welche den Kriegsbefürwortern den breiten Raum einräumen, der ihrer ideologischen Präferenz entspricht, aber nicht der Ausgewogenheit eines politischen Meinungsspektrums.“

Es gibt also derzeit – was für eine Neuigkeit! – außer dem menschengemachten Klimawandel weitere nennenswerte Ereignisse, deretwegen sich aus guten Gründen hungern ließe. Suschke tut das nicht, sondern im Kontext eskalierender globaler Krisen und Konflikte das ihm Gemäße.

Ein anderer, der US-amerikanische Sprachwissenschaftler und Aktivist Noam Chomsky, beschreibt in seinem 1989 zuerst in Kanada veröffentlichten Buch „Necessary Illusions. Thought control in Democratic Societies“ („Notwendige Illusionen. Gedankenkontrolle in demokratischen Gesellschaften“) zwei unterschiedliche Konzeptionen von Demokratie:

„Die eine geht davon aus, daß in einer demokratischen Gesellschaft die Bevölkerung die Möglichkeit hat, sich auf sinnvolle Weise an der Regelung ihrer Angelegenheiten zu beteiligen. […] Eine andere Konzeption besagt, daß die Bevölkerung von der Regelung ihrer Angelegenheiten ausgeschlossen und der Zugang zu den Informationsmitteln streng begrenzt und kontrolliert werden muß.“ Eine Seite später heißt es: „Die Wirkungen staatlicher Propaganda sind umso größer, je mehr sie von den gebildeten Schichten unterstützt und keine Kritik daran zugelassen wird. Diese Lektion haben Hitler und viele andere gelernt, bis auf den heutigen Tag.“

Am Ende seines Buches setzt sich Chomsky, exemplarisch für die US-amerikanische Geschichte, in der es immer „Personen und Gruppen gegeben hat – und weiterhin gibt –, die der Meinungsfreiheit insgesamt (und anderen zivilen Rechten) ablehnend gegenüberstehen“, mit den Überzeugungen des einflussreichen, heute 99jährigen (im schlesischen Breslau geborenen) Guenter Levy auseinander, der Ende der 1980er Jahre Zweifel anmeldete, ob das FBI noch „auf angemessene Weise die Spur von Gruppen [außerhalb der Kommunistischen Partei] verfolgt, die direkt oder indirekt unter der Leitung von Kuba, Nicaragua, Rotchina oder anderen feindlichen Staaten agieren“.

Den in der DDR studierten und bis 1989 am Theater Greifswald tätigen Suschke erinnert die hiesige Bildungs- und Medienlandschaft inzwischen an den bis zum Ende der DDR gut kennengelernten „Handwerkskasten des Stalinismus“. Bedenkliches sieht er nicht mehr heraufziehen, sondern längst erschreckend nahe der eigenen Haustür:

„Was wird mit dem ‚unverbrüchlichen transatlantischen Bündnis‘, wenn Trump Präsident wird und Putin die Ukraine in den Schoß fallen lässt? Dann werden sich all die Formeln als so leer erweisen wie die ‚deutsch-sowjetische Freundschaft‘, die ‚blühenden Landschaften‘ und die Hülsen der Artilleriegeschosse in der Ukraine.“

Wie wäre es, wenn wir – anstatt es bei Gewissenshygiene zu belassen und die Letzte Generation kriminalisieren – all unseren Grips zusammenraffen und uns in ehrlichen Diskursen mutig wieder aufeinander zu bewegen?

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