kein Abgrund

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Sind wir hilflos? „Ausblick am Rand des Abgrunds“ überschreibt das Onlinemagazin Manova ein Gespräch des vom medialen Mainstream entfernten Publizisten Walter van Rossum mit der von der Universität Bonn gekündigten Politikwissenschaftlerin Ulrike Guérot.

„Neue Perspektiven und lebendige Debatten“ will das Manova-Team kreieren, will mit dem Magazin „inspirieren und zum eigenen Handeln ermutigen“ und dabei „auf Vielfalt statt auf Machtkonzentration, auf Kooperation statt auf Konkurrenz“ setzen.

Seit die Erde nicht mehr als Scheibe, sondern kugelähnlich erkannt ist, können wir in einen Abgrund nicht mehr stürzen. Sicherer fühlen wir uns dadurch aber kaum. Nicht so sehr die eigentümliche Vorstellung des Auf-dem-Kopf-Stehens unserer entferntesten Mitmenschen zum Beispiel ist ein Grund, jedoch unsere Verwirrung, die entsteht, wenn wir über uns (hinaus) in unermessliche Ferne blicken, während uns die erdoberflächliche Unendlichkeit gar nicht vorhandene Weite vorgaukelt. Das bringt uns offensichtlich regelmäßig aus dem Gleichgewicht.

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Sind wir einfallsreich? Finden wir Wege, unsere vielen oberflächlichen Wünsche und Begehrlichkeiten zu zügeln und in Einklang zu bringen? Finden wir heraus, dass vor allem das gemeinsame und das füreinander Tun dazu beiträgt, im Gleichgewicht zu bleiben oder es wiederzufinden? Mögen unsere Wünsche auch noch so verständlich und Absichten auch noch so gut sein, die Natur funktioniert nicht in diesen Kategorien: nicht willentlich, nicht wunschgemäß, nicht reguliert. Ihre Antriebe und demnach auch unsere Neigungen entstehen erst im Geschehen, im bewegten Sein, in dem weiten Feld von Möglichkeiten, die sich aus Wechselwirkungen ergeben.

Für mich ist das ein Argument gegen die eifrige Mobilisierung von Willenskräften. Ich denke, meine Lebenschancen hängen entscheidender davon ab, wie nahe die Einbildungen, die mir mein Gehirn von der Wirklichkeit verschafft, ihr tatsächlich kommen. Wie gut in ihnen die Wirklichkeit zum Vorschein kommt. Erst dann stellt sich die Frage, was ich will und kann. Einbildungen verhindern, dass ich ihretwegen schon den Kopf, metaphorisch und buchstäblich, verlieren muss. Nichts spricht dagegen, Geschehen nicht unbedingt kontrollieren zu wollen und auch einfach geschehen zu lassen. Zu sehen was kommt und dann weiterzusehen.

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Von Großreichen, die vermeintlich aus großen Ideen erwachsen, tatsächlich aber aus Kleinmut, ist noch nie viel übrig geblieben. Weil wir hilflos und einfallsreich sind? Goethe gibt seinem Faust zwei Seelen. Ihm, der auch ein Freund der Wissenschaften war, dürfen wir zutrauen, dass er schon vor 200 Jahren sah, wo uns der Kopf steht. Die Seele hat er dem Helden seines Hauptwerks nicht versehentlich in die Brust gesteckt. Gleich zwei davon!

Wenn das nur gut geht.

Mit Sicherheit nicht.

Noch nicht lange sind die Körperkundler dem Bauchgehirn und dem menschlichen Mikrobiom auf der Spur. Beide stehen im Verdacht, uns nicht nur am Gehirn vorbei, sondern sogar unter der Hand  zu beeinflussen. Das Gute daran ist, dass unsere Antriebe nicht nur aus bipolaren Spannungsfeldern (menschlich und göttlich, diesseits und jenseits, männlich und weiblich, vormals und künftig) hervorgehen und unsere Wahrnehmungen nicht nur aus dem, was unsere fünf Sinne (sehen, hören, riechen, schmecken, tasten) uns als Abbild der Wirklichkeit ins Großhirn spielen. Tatsächlich sind wir viel komplexer in das große Ganze eingebunden, das kein richtig oder falsch braucht, um als Raum und Zeit großartig zu erscheinen.

Georg Wilhelm Friedrich Hegel hatte die Dialektik als Erkenntnismethode schon entdeckt, doch war wahrscheinlich Alexander von Humboldt der erste neuzeitliche Mensch, der sie im Naturereignis ge- und empfunden und damit die meisten seiner Wissenschaftskollegen mit ihren bipolaren Schablonen vor allem wohl verstört hat.

Und wir, 200 Jahre später? Wir nageln gern weiter unsere Möglichkeiten an Kreuze oder verarbeiten sie als Ressourcen oder suchen eine Gegenwelt aus Antiteilchen. Unsere Kinder spielen weiter Räuber und Gendarm und Krieg, wenn sie erwachsen sind. Wie eh und je wollen wir hoch hinaus und fallen uns vor die Füße. Auf den Boden der Tatsachen. Der kein Abgrund ist.

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