Der Shuttle-Bus fährt die Frankfurter Straße hinunter ins Fuldatal und dort zwischen Fluss und Karlsaue den Auedamm entlang bis zu CLAES OLDENBURGs überdimensionaler blauer Spitzhacke, die seit der „documenta 7“ in der Uferböschung steckt. Wieder hinauf und am Theater vorbei fahre ich bis zum Steinweg, esse eine asiatische Nudelportion, lauwarm, weil der Imbiss einen Stromausfall hat und beginne einen zweiten Rundgang. Die Wartenden vor dem „Fridericianum“ schlängeln sich immer noch gute einhundert Meter zwischen Kapitalismus-Gegnern und Sonnenanbetern. Hinter mir schwäbelt es. Minutenlang wird allen Ernstes die Aussprache des Gebäudenamens beratschlagt und „Frideritschianum“ in die engere Wahl genommen.
Im vermeintlichen Herzen der „documenta“ häufen sich die internen Warteschleifen. Beypässe werden kaum akzeptiert. In der Rotunde befindet sich unter anderem eine Rekonstruktion von MARK LOMBARDIs „BCCI, ICIC & FAB, 1972-91“, eine der letzten Arbeit des Amerikaners mit dem umstrittenen Tod im Alter von nur 49 Jahren im Jahr 2000. Seine Zeichnungen sind lakonische Landkarten und Soziogramme der globalen Verstrickung von Politik, Wirtschaft und Terrorismus zu Zeiten Georg W. Bush senior.
Eine überraschende Begegnung mit Einstein, Planck, Heisenberg und Schrödinger beschert der österreichische Physiker ANTON ZEILINGER mit Quantenexperimenten zur mikrokosmischen Teleportation. Ich brauche mich nur für das berühmte Kamel zu halten, das ein Nadelöhr passiert und habe einen exclusiven Ausweg aus jedem nur denkbaren Schlamassel.
Eine Injektion puren Entsetzens holt mich wieder in die Realität. KADER ATTIAs „Fotografien, Filme, Skulpturen und Installationen leben von der Spannung zwischen äußerlich-sinnlichem Reiz und kontroversen Inhalten“, heißt es im „Begleitbuch“, ein guter Grund, mich ihm nicht vorschnell verschrieben zu haben. Ich kenne kaum eine kunstwissenschaftliche Betrachtung, die ihren Gegenstand tatsächlich berührt und verspüren lässt. „The Repair from Occident to Extra-Occidental Cultures“ des Franzosen, der in Berlin und Algier lebt, ist eine exakt in den Raum justierte Sammlung von Verletzungen persönlicher, ethnischer und kontinentaler Dimension, weit mehr als ein afrikanisches Kulturverzeichnis. Mit den übergroßen Kopfskulpturen, die nach Fotografien plastischer Operationen an verstümmelten Soldaten aus dem Ersten Weltkrieg gearbeitet sind, wächst die Gewissheit, dass hier das Schreckensbild einer Jahrhunderte währenden Kolonisation des Kontinents zum kollektiven Gedächtnis geballt und daraus die Einsicht gepresst wird, dass wir Europäer es waren und sind, die diese Deformationen zu verantworten haben. Mit der noch ziemlich neuen Erkenntnis der Genforschung, dass unser aller Ursprung just in dieser Gegend liegt, wird die akribische Sammlung zur hochnotpeinlichen Aushängeschild unserer Verantwortungslosigkeit. Die, die ich beobachte, verkümmern schon bald nach dem Eintritt zur Einsilbigkeit und finden zumindest in der Zeit hier drin nicht wieder aus ihr heraus. Eine perforierte Stille entsteht, die Kopfinnen ein Rauschen erzeugt, das die nächsten Eindrücke zerfranst und sich erst Minuten später wieder auflöst.
Als Zugabe gedacht, erweist sich das „Ottoneum“ als nachmittäglicher Höhepunkt. Das Kasselaner Naturkundemuseum ist hier beheimatet. Wie in der „Orangerie“ oder im „Neuen Museum“ wird die ständige Sammlung mit Neuartigem temporär durchsetzt und hier besonders wirkungsvoll.
Gleich hinter dem gartenseitigen Portal sind auf alte mit goldschimmernden Glasplatten belegte Tische Barren aus gepresster Ackererde geschichtet. Ohne weitere Erklärung legt ihr so veranschaulichtes Eigengewicht einen anderen Wert der kostbaren Ressource nahe. Das ist Teil des Projekts „When you step inside you see that it is filled with seeds“, mit dem CLAIRE PENTCOST eindringlich die scheinbar unvermeidlichen systemischen Strukturen unserer Zivilisation in Frage stellt und ein neues Wertemuster entwirft. In dem aus schierer Dunkelheit hervorgeholten Raum daneben bietet die in Atlanta geborene Amerikanerin Saatgut „als das älteste quelloffene Wissenssystem der Geschichte“ an. Schon aus diesem Grund darf es weder privatisiert noch patentiert und also profitabel werden! Im Gartenbereich schließlich hat sie senkrecht mit Erde befüllte Säulen aufgestellt, mit denen in ackerlandarmen Gegenden Gemüseanbau intensiviert werden kann. Um fruchtbare Erde herzustellen, beteiligt sie sich an der Kasseler Universität an der Entwicklung von Wurmkompostern.
Wie sich Idee und Materie zu Systemen verknüpfen, die Illusionen und Selbsttäuschung nähren, untersucht die Norwegerin TORIL JOHANNESSEN in lockend spielerischer Weise. Erlägen wir ihnen so leicht, weil sie so einfach oder so verborgen sind?
Im zweiten Obergeschoss hat der Amerikaner MARK DION der zwischen 1771 und 1799 angefertigten „Holzbibliothek“ von Carl Schildbach ein sechseckiges Eichenholzdomizil beschert, das gleichzeitig auf das Projekt „7 000 Eichen“ von Joseph Beuys anspielt. Für die „documenta 7“ im Jahr 1982 ließ Beuys 7 000 Basaltblöcke auf dem Friedrichsplatz deponieren mit dem Ziel, sie nach und nach abzutragen. Jeder, der 500 DM spendete und für das Geld an anderer Stelle ein Eichenbäumchen pflanzte, durfte einen Block entfernen lassen. Carl Schildbach, der in Sachsen geborene Tiergartenaufseher des Landgrafen Friedrich II., schuf seine Xylothek aus 530 in Buchform gearbeiteten Kästen, die über 441 heimische Baumarten Auskunft geben. Die Rücken sind mit der Rinde des Baumes beklebt und beschriftet, die Kästen enthalten weitere Bestandteile wie getrocknete Blätter oder Wachsrepliken von Zweigen, Blütenständen und Früchten. Mark Dion stellt die Enzyklopädie nicht nur aufs Neue zur Verfügung, er hat sie um sechs Bände erweitert, von denen fünf analog zu fünf Intarsientafeln auf den Außenseiten des Sechsecks die in Schildbachs Sammlung fehlenden Kontinente ergänzen.
Der Akku meiner Kamera hat schon im „Fridericianum“ Leerstand gemeldet, mein eigener signalisiert jetzt mäßige Reserven. So setze ich mich noch eine Viertelstunde an den Friedrichsplatz und lasse den frühen Samstagabend vorbei, frage mich, was ich von alldem halten soll. Ist es ein großes Unterfangen oder eine bombastische Narretei? Niemand wird mir für mich beantworten. Ich selbst muss es tun. Allein das ist die immer noch vorhandene Hoffnung, die mir bleibt.
Aus der documenta-Buchhandlung nehme ich nun auch das „Begleitbuch“ ins Gepäck und den Weg treppauf zum Bahnhof, wo im Bali-Kino der spanische Regisseur ALBERT SERRA mit einem Film aufwartet, dessen Konzept ihn mit YAN LEIs Bilderkalendarium verbindet. „The Three Little Pigs“ macht die einhundert Ausstellungstage zu einhundert Drehtagen, aus denen nach und nach der Film entsteht, von dem ich lesen kann: „Das Märchen von den drei kleinen Schweinen beruht auf der Dreierregel als einer Methode, eine Lösung zu finden, mit der man die Katastrophe – den Wolf – meiden kann.“ Johann Wolfgang Goethe, Adolf Hitler und Rainer Werner Fassbinder wählt Serra aus, um mit ihren Texten auf die Suche nach der europäischen Identität zu gehen. Die legt sich im Sommer 2012 nicht wie ein Schweigemantel übers kurhessische Kassel, sondern pellt die Stadt zu einem Weltmittelpunkt aus.