das Buch “Tschudi”

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Hingerissen wie von „Tschudi“ war ich seit dem grandiosen Roman „Der Meister und Margarita“ nicht mehr. Darin lässt Michail Bulgakow den Teufel im Moskau der 1930er Jahre erscheinen, um im jugendlichen Sowjetstaat dem sogenannten Neuen Menschen auf den Zahn zu fühlen. Sollte er das Böse tatsächlich vom Sockel stürzen oder gar aus der Welt schaffen können? Mitnichten, wie sehr schnell sehr deutlich wird. 1976 las ich den Roman ein erstes Mal und erfuhr, dass Marianne Faithfull ihn anno 1968 Mick Jagger auf den Nachttisch geschoben und ihn so zu „Sympathy for the Devil“ inspiriert haben soll, für mich bis heute der spektakulärste Song der „Rolling Stones“.

Den Roman „Tschudi“ legte mir im Frühjahr 2021 eine inspirative Freundin nahe. Leihweise wanderte er in einem schwarzen Stoffbeutel mit rotem Aufdruck, wie sie der französisch-deutsche Kultursender arte auf Buchmessen verteilt, von Dresden in mein Leipziger Oberstübchen und weitete es im Nu in eine intensive Nachempfindung aus, wie sie die „Star Trek“-Astronauten auf dem Holodeck des Raumschiffes Enterprise erleben.

Bei Lektüre eines Buches haben Art und Weise des Geschriebenen sicher einen Anteil am Leseerlebnis. Dass es ein ganz besonderes wird, bedarf es allerdings noch einer zusätzlichen Resonanz, die sich erst einstellt, wenn Autor*in und Leser*in innerlich ähnlich gestimmt sind.

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Seit meiner Jugend begeistern mich Gemälde von Pierre-Auguste Renoir und Edgar Degas. Allerdings habe ich bis zum Buch von Mariam Kühsel-Hussaini nie gefragt, wie und durch wen sie hierzulande bekannt wurden. Durch Tschudi, erfuhr ich von ihr, den „Meister des Widerspruchs im Geschehen einer Wahrheit, die soeben dabei ist, sich“ aus dem monarchischen und akademischen Dünkel im Deutschen Reich Kaiser Wilhelms des II. „zu erheben“, einem „Hasser dieser neuen Malerei“, dieser „violetten hingespuckten Hinterlassenschaften“, diesem „Farbangriff aus Frankreich“ auf die deutsche Zucht und Ordnung. Ausgerechnet durch einen Schweizer.

Abkömmling einer alten eidgenössischen Adelsfamilie, hatte Hugo von Tschudi 1875 ein Studium der Juristerei in Wien beendet, nebenher schon mit Begeisterung Vorlesungen in Kunstgeschichte besucht und im Anschluss vor Ort in Augenschein genommen: in Deutschland, Holland, Belgien, Frankreich, Italien. 1883 holte ihn Wilhelm Bode, der soeben zum Direktor der königlichen Skulpturensammlung befördert worden war, als Assistent der Gemäldegalerie nach Berlin.

Leuchtender Schweifstern am funkelnden Himmel der Kunst- und Geistes-Szene, wurde der charismatische Schweizer rasch zum Liebling der aufstrebenden bürgerlichen Elite. Im Literarischen Salon von Carl und Felicie Bernstein verliebte er sich endgültig in die neue französische Malerei und sah sich als neuer Direktor der Nationalgalerie in der Lage, sie  zu sich zu holen.

Nicht nur zum eigenen Vergnügen, denn wie anders als mit Kunstwerken, mit ästhetischem und geistigem Diskurs, ließ sich ohne Abwertung eines anderen der eigene Nationalstolz auf friedlichste Weise ausweiten und aufwerten. Was für eine Idee von Grenzüberschreitung!

So gedacht, so getan, und 1896 reiste Tschudi mit dem Freund und Maler Max Liebermann nach Paris, um eine stattliche Marge moderner französischer Malerei zu ordern: Manet, Monet, Degas, Cézanne et cetera. In der Beletage seines Hauses stellte er sie stolz zur Schau und ließ das Abgehängte erst einmal im Depot der „vaterländischen Bildersammlung“ verschwinden.

Was für ein Affront für den großdeutschen Kleingeist! Verstört und entsetzt formierte der umgehend eine Gegenfront. Im Dunstkreis des Kaisers organisierte der Historienmaler Anton von Werner – „des Kaisers Maler“, ein „begabter Zeichner“ und „nichtsfühlender Unteroffizier“ – intrigant und voller Bosheit die Attacke auf Tschudis kosmopolitisches Konzept.

Wilhelm Bode eng an seiner Seite. Wie das? In ihm, der Tschudi 1883 an der Spanischen Treppe in Rom kennengelernt hatte und auf Anhieb von seiner „unbegreiflichen Eleganz und Anziehung“, seiner „Bildungsendgültigkeit“ und natürlichen Größe fasziniert war, hatten sich Eifersucht und Neid zu einem Hassgeschwür ausgewachsen. Getuschelt wurde, Bode habe Tschudi nur nach Berlin geholt, um ihn im Blick zu haben und „kleinzuhalten“. Letzteres misslang gründlich. Stattdessen entbrannte ein Bilderkampf, wie ihn die Reichshauptstadt noch nicht gesehen hatte.

„Der Krieg der Kunst hat erst begonnen und er wird die wahre Natur der Menschen aufzeigen!“, bemerkt Tschudi, der den Direktorensessel der Nationalgalerie ein Jahrzehnt eindrucksvoll behauptete, bevor er, den Zeitgeist der Moderne im Gepäck, für eine kurze letzte Zeit nach München zog, wo er willkommener war.

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So wenig wie Tschudi, kannte ich bis zur Lektüre ihres Buches die Autorin Mariam Kühsel-Hussaini. Die Tochter eines afghanischen Dichters und Enkelin eines Kalligrafen, der ein Freund und Vertrauter des afghanischen Königs war, kam 1990 nach Deutschland. 2010 erschien „Gott im Reiskorn“, ihr erster Roman in deutscher Sprache. Entlang ihrer eigenen Biografie erzählt sie darin die Geschichte eines jungen Berliner Kunsthistorikers, der in den 1950er Jahren nach Afghanistan reist, dort in eine Kalligrafenfamilie aufgenommen wird und die wahre Seele des Orients erlebt: die Poesie.

„Tschudi“ ist Mariam Kühsel-Hussaini’s vierter Roman und eine außerordentliche Liebeserklärung an die Titelperson. Mit einer Sprache wie ein Tanz auf dem schmalen Grat zwischen Edelkitsch und Meisterschaft überwindet sie den Zwischenraum, der sie in der Realität hindert, ihre Zuneigung auszuleben. Mit kalligrafischer Gewandtheit windet ihre Sprache sich in die Vergangenheit. Nur wenige Seiten genügen, bis auch ich dort bin, wo sich hinter „Kunstfronten“ schon die Ungeheuerlichkeiten abzeichnen, die das 20. Jahrhundert zerlöchern werden.

„… den Blick in die vielgeliebte Lagune bohrend, Torcello, mit seiner teuflischen Brücke … San Francesco, die Toteninsel … mit ihrer schwarz flüsternden Mauer aus Zypressen, sich kleiner und kleiner schaukelnd in Tschudis Linsen … denen eine Träne floh, über kleine rotweiche Knötchen, die an den Rändern ihrer abgeheilten bläulich braunen Wunden neue Knötchen bilden würden … bald wieder … tief in die Haut hineingeschlängelt, über die Nase, beide Wangen, im Inbegriff, diesen Schatz von Antlitz schwer zu entstellen.“

Dieses Textstück findet sich ganz vorn im Buch, eine venezianische Episode, die Tschudi erinnert: Wie er selbstbewusst, in feinem Zwirn, die Handgreiflichkeit mit einem gierig-frechen Gondoliere nicht scheut, bevor ihn wieder und mich die stampfende, dampfende, eiserne Betriebsamkeit der deutschen Hauptstadt ergreift und gleichzeitig ein Unbehagen auslöst, das anwächst, je tiefer die Sätze sich in die Zeitgeschichte schneiden, wie ein präzise geführtes Skalpell.

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Allein aus der Tschudi-Perspektive gelänge der Autorin das nicht. Also etabliert sie neben ihrem Schweizer den Kunstmaler Adolf Menzel und den deutschen Kaiser Wilhelm Zwo. Ein Dreieck resultiert, ein Versehrtendreieck, mit dem sich ein Tableau auffächern lässt, das wie eine Zeitmaschine in die Jahre 1896 bis 1911 versetzt. Unwiderstehlich hineingezogen, atme ich Berliner Luft, und die lädt das Geschehen zur Geschichte auf, wie ein heftig gekurbelter Bandgenerator seine blanken Kugeln.

Hugo von Tschudi litt an Lupus vulgaris, der Wolfskrankheit, eine heute sehr seltene Hauttuberkulose. Im Anfangsstadium, das mehrere Jahre dauern kann, bilden sich, meist auf den Wangen und im Nacken, erbsengroße, braune Bläschen oder Knötchen, die keinerlei Schmerzen oder Beschwerden verursachen. „Das besonders Gemeine dieser Krankheit ist, dass die Bakterien sich von ihren eigenen Fettschichten, die sie, sobald sie sich teilen, bilden, ernähren können und sich somit gegen die natürliche Immunabwehr des Kranken schützen, weil sie für ihre Vermehrung sogar noch körpereigene Zellen des Immunsystems kapern und für ihre Zwecke missbrauchen.“ Lichttherapie half Tschudi nicht. Eine Gesichtsmaske, innen aus schonendem Wachs, „nach außen mit hauchdünnem Kupfer versehen“, ließ Rudolf Virchow für ihn anfertigen. Den erbarmungslosen Zugriff der Krankheit deckte sie einstweilen ab. Zuletzt, 1911, sind beide Ohren amputiert, die Nase „wie ein zertrümmerter Turm. Hellrosane und hellgelbe Tupfen auf den Brauen. Umbra, weiß und schwarz auf der weichen Hand. Violett silbrige Wimpern, die sich schlossen und nicht wieder öffneten.“

Adolph Friedrich Erdmann Menzel war kleinwüchsig und Fünfzehn, als die Familie 1830 von Breslau nach Berlin zog. Nie größer als Einsfünfzig wurde die „kleine Exzellenz“ aber ein Großmeister unter den Künstlerkollegen. Als Tschudi in Berlin eintraf, war er schon Mitglied der Königlichen Akademie der Künste und Professor. Seit der Reichsgründung und einem wachsenden Nationalismus bahnte er einer Malweise den Weg, die die vorgefundene Wirklichkeit abbildet, ohne sie, bis dahin üblich, heroisieren zu müssen. 1895 wurde er auswärtiges Mitglied der französischen Gelehrtengesellschaft Académie des Beaux-Arts. In der Heimat verlieh ihm Kaiser Wilhelm Zwo den Titel Wirklicher Geheimer Rat mit dem Prädikat Exzellenz und 1898 den Schwarzen Adlerorden, der mit Persönlichem Adel verbunden war. 2005 besuchte ihn Tschudi. „Der eine ein Todgeweihter, der andere ein Lebloser“, von Menzel „ein Maler der Könige und für Könige“, von Tschudis Augen „sanft zersplitterten“.

Wilhelm Zwo, der „Deformierte“, fühlte sich ein Leben lang als Krüppel. Bei der Geburt vom Arzt gequetscht, wurde „ein wichtiger Nervenstrang entlang der Achsel so heftig verletzt, dass er nach anfänglichen Lähmungen schließlich mit einem 15 cm kürzeren Arm das Leben antrat.“ Eine Kopfstreckmaschine sollte das beim Zehnjährigen korrigieren, der außerdem „Elektrisierungsheilversuche“ mit „gemeinem Wechselstrom“, der ihn „durchschnitt, jahrelang“, aushalten musste. Der Hand am anderen Arm, der war, wie es sich gehörte, war sogar das Malen beigebracht worden. Treffsicher malte sie Schlachtschiffe wie die SMS Wilhelm II.: „Noch etwas Zink auf die aufgebrachten Wellen. Noch ein wenig mehr Rauch aus den Zylinder-Dampfkesseln. Diese Malerhand ging sehr bedacht vor … Jetzt nur noch ein wenig Glut in den Sonnenuntergang mischen. So, ja, so ist es gut. Der Kaiser legte seine Pinsel beiseite und betrachtete wohlwollend das Bild. Zufrieden mit sich. Fort waren die Zweifel und Sorgen … Das ist es schließlich, was bleibt, nicht die Rinnsteinkunst eines Liebermann oder das Sabbern und Klistieren auf den französischen Leinwänden.“ Wie gern er diesen Tschudi „umerzogen“ hätte!

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Lange fort blieben die kaiserlichen Zweifel und Sorgen nie. 1902, noch weit entfernt vom Kriegsbeginn im Jahr 1914, war der Kaiser nicht der einzige mit Vorahnungen, nahm sie aber vor allem persönlich, wenn sie ihn „aufschrecken ließen, im schlummernd, wie eine Sphynx langgestreckten Barockbau an der leise treibenden Spree … hoch über seinem kalten Heimatreich … in seinem Raumschiff über der Wahrheit“, wenn sie als „großer Schatten“ über seinem Schloss lauerten.

Während nur wenige Meter davon die regierungskritische, wirtschaftsliberale Freisinnige Volkspartei Wahlkampfflugblätter verteilte.

Während der Jude Benedict Friedlaender „die Gefängnisstrafe für homosexuelle Männer abgeschafft wissen wollte“ und enthusiastisch die anarchistische Zeitschrift „Kampf“ finanzierte.

Während die neuen Großindustriellen dem Militär zuliebe noch den Kaiser unterstützten: „Es geht um unsere Präsenz, wir haben ein Reich, Kolonien, da entsteht natürlich eine Eigendynamik … Es geht nicht um die Endgültigkeit und Vollführung der Tyrannei des Materials Stahl, sondern um die Haltung, die bereits präventiv wirken kann, wenn es etwa darum geht, unsere Handelswege zu verteidigen … Warum sollte England den Handel lenken?“

Während Friedrich Krupp Tschudi einen Goya für die Nationalgalerie schicken ließ. „Es heißt ‚Der Maibaum‘. Ein buntes Bild, innig. Wenn da nicht … so ein schwarzer Schleier über den Farben drohte“.

Während „Richard Wagner mit jeder Gegenwart bricht“ und „die konservativen und rechten Parteien des Reichstages ihre Sitzungen mit dem Schrei ‚Heil!‘ … abrundeten“.

„Mein ganzes Reich ist doch schon in jüdischer Hand“, zeterte Wilhelm Zwo 1906, heftige Schmerzen im Zahn. „Es gibt keine andere Erklärung. Das jüdische Welträtsel ist es, die Welt zu verschlingen. Selbst den Kaiser verschont das nicht. Oh, was für eklige Stunden. Was für Verkehrtheit. Bedrohlichste Zersetzung.“

Während der einflussreiche jüdische Journalist Maximilian Harden die Homosexualität von Philipp zu Eulenburg, des Kaisers Engstvertrautem, öffentlich machte.

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In seinem Buch „Die goldene Rose“ schreibt der russische und sowjetische Schriftsteller Konstantin Paustowski von einer kommenden Zeit, in der „die Poesie die Herrschaft über die Herzen haben, und die soziale Ordnung – jene Ordnung, auf die wir uns durch Jahre der Arbeit, der Sorgen und der seelischen Anspannung zubewegen – auf der Schönheit der Gerechtigkeit begründet sein wird, auf der Schönheit des Geistes, des Herzens, der menschlichen Beziehungen und des menschlichen Körpers“. Einundzwanzig war ich, als mir der Schriftsteller Horst Beseler beim ersten Zentralen Poetenseminar der DDR im Schweriner Schloss Paustowskis Buch empfahl, das ich umgehend las und lange mit mir trug wie Leibhaftiges. Dann stand es inmitten meiner Bücher, steht es nach wie vor und kam mir doch abhanden. Vergessen war es, aber nicht verloren. Mit dem Buch „Tschudi“  fand ich es wieder und rettete es. Oder es mich?

Weiter schreibt Paustowski: „Wirklich erhabene, bezwingende Erscheinungen, wahrhaftes Glück kommen in der Literatur nur da zustande, wo Poesie und Prosa sich organisch verschmelzen oder, genauer gesagt, in einer Prosa, die ganz durchdrungen ist vom Wesen der Poesie, von ihren lebenspendenden Säften, ihrer transparanten Luft und ihrer fesselnden Macht.“ Ein solches Kunststück gelingt Mariam Kühsel-Hussaini, beseelt vom Orient, begeistert von Tschudi. Sie fängt mich ein und lässt mich fliegen. Ganz ohne Hexenbesen, auf den mich Bulgakow schadenfroh setzte.

Das Buch „Tschudi“ ist voll von Farben. Tschudis wegen, der mit dem Teufel paktiert, „nur dass der Teufel eigentlich ein verkleideter Engel war in Gestalt von Leinwänden, die etwas mit sich nach Berlin brachten, was es noch nie gegeben hatte, Farbe. Tschudis wegen, der für „die Farben des Lebens, der Einsicht, der Zugewandtheit und des ganzen menschlichen Stimmungsreichtums“  lebt und „auch der Unbestimmtheit, des Zweifels, der Verleumdung, der Bosheit, der Schwäche und des Wahnsinns“ wegen.

… Marmorweiß … Käse-Mehl-Weiß … weiß glühende Orgie … gelblich ernst … Sonnengelb … Sommerflamingo … hochrot … Granatapfelrot … Salonrot … Frauengiftrot  … milchkaffeefarben … Feuerbraun … kiwiknallig … arg blau … silberblau wie bei Caillebotte … dunkelgolden … starkviolette Halbschatten … Perlmutt … buntschillernder Realismus … zuckend goldgrau … Grau-Dunkelgrau … Nachtgrau … Wände in Crème und Bisquit … unerwartetes Türkis dicht an plötzlichem Smaragd und unbezwingbarem Rubin … purpurrote Gardinen … schwarz-schwarze Augen … mandelfarbene Brüste … wald-schwarzes Schamhaar … rot-rosaner Spalt … der goldene Kern der Wahrheit … rollende Wellen in Grau in Silber in Zinn … aus Blautönen ins Türkis geschaukeltes Wasser …

„Die Sonne ging unter. Maßlos erstreckte sich ihre lavafarbene Glut in langen Goldfäden über den ganzen Himmel und stach in den Spiegel des Wassers und brannte fort im schwarzen Loch des Sees.“

… schwarzpinkene Fetzen … schwarz-silbrig … Goldtropfen unterhalb einer teerig aufgeladenen Wolke … Mantelschwarz … Samtkragenschwarz … Zylinderschwarz … Schwarz wie die Zukunft …

Farben über Farben und doch keine Pracht, kein Rausch, kein Feuerwerk. Wie die besten Maler es mit Stiften oder Pinseln tun, so gestaltet die Autorin ihre Personage und ihre Szenen. Wortfarbig setzt sie gleißendes, flimmerndes, mattes, changierendes, verdunkelndes Licht, häufig waghalsig, häufig riskant, dosiert ausgelassen, selten im Übermut, häufig als Zumutung, manchmal als Provokation, stets mit gewisser Ungewissheit, einerseits nah am Ertrinken im Wörtersee, andererseits am Rande der Sprachlosigkeit.

„So soll es sein. So oder so. Entweder lebenrot oder todrot“, flüstert der Poet mir zu. Verse kann Mariam Kühsel-Hussaini auch, kunstvoll wie eine Intarsie in ihren Text eingelegt.

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In Kapitel 39 steht:

„Er schaute in den Baum hinein, der zögerte, sich zu verwandeln. Ein wartender Baum. Ich warte mit dir, sagte Tschudi. Was hält dich auf zu grünen? Bist du zu verletzt, um endlich aufzuspringen? Verletzt, von der Gewalt der Einsamkeit?

Elas Blick hatte sich verändert.

Ihn so zu sehen – von dieser vollkommenen Stille durchzogen – versetzte ihr einen Druckschmerz im Magen, der sich konzentrisch in ihr ausbreitete, manchmal mit plötzlicher Ausweglosigkeit geschmückt.

Öffne endlich deine Blätter, sagte Tschudi, lass mein Herz ganz lange schauen. Sieh doch, wie der große Himmelsreif keine Grenzen für dich kennt. Bald leuchtest du in grünem Feuer, bald brennen deine Zweige in Absinth. Du kannst dich doch nicht ewig wehren, du bist auserwählt. Du wirst der Schwan der Straße sein, wenn Gott seine Könige zählt.

Versifizierung:

was hält dich auf zu grünen?
bist du zu verletzt
um endlich aufzuspringen?
verletzt von der gewalt
der einsamkeit?
öffne endlich deine blätter
lass mein herz ganz lange schauen
sieh doch, wie der große
himmelsreif keine grenzen
für dich kennt
bald leuchtest du in grünem
feuer bald brennen deine
zweige in absinth
du kannst dich doch nicht
ewig wehren
bist auserwählt
wirst schwan
der straße sein
wenn gott
seine könige zählt

Ein Gedanke zu „das Buch “Tschudi”

  1. Hallo Herr Madei, sporadisch lese ich in Ihrem Blog, so auch hier vor längerer Zeit. Ihr Begeisterung für dieses Buch steckte mich an und ich setzte es auf meine “Leseliste”. Jetzt erst kam ich zur Lektüre. Ein echtes Leseerlebnis für mich! Wie die Autorin mich mitnahm ins Künstlerleben der Jahrhundertwende, ins Wirken eines Tschudi, eines außergewöhnlichen Menschen. Und das in einer wunderbaren Sprache, die Sie so treffend beschrieben haben. Ich bleibe ergriffen, begeistert, nachdenklich und neugierig zurück (denn nicht alles konnte der Roman beleuchten, wie sollte er auch). Danke für den Lesetipp.
    Ich hoffe, es geht Ihnen gut. Viele Grüße Karin Kürsten

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