WE WALKED THE EARTH
Den Hauptpreis der 59. Biennale di Venezia, den Goldenen Löwen, bekommt die britische afro-karibische Künstlerin und Pädagogin Sonia Boyce (1962) zugesprochen. Seit ihrer Geburt lebt und arbeitet sie in London, ist heute Professorin für Black Art und Design an der College-Universität der Künste. Zeichnend, druckend und audiovisuell erforscht sie „die Beziehung zwischen Klang und Erinnerung, die Dynamik des Raums und die Einbeziehung des Betrachters“. Sie ist die erste schwarze Frau, die Großbritannien auf der Biennale vertritt. Mit der Videoinstallation „Feeling her Way“ zeigt sie die Kraft der (schwarzen) Musik und, so die Jury, „eine Fülle von zum Schweigen gebrachter Geschichten“.
Sie findet heraus, unter welchen Bedingungen sich die britische Schauspielerin und Sängerin Jacqui Dankworth, die US-amerikanische Sängerin und Internet-Persönlichkeit Poppy Ajudha, die schwedische Sängerin und Komponistin Sofia Jernberg und die britische Singer-Songwriterin Tanita Tikaram frei genug fühlen, um als „gemeinsames Individuums“ (Jean- Paul Sartre) zu agieren. Den Ort für ihr gemeinsames Bandprojekt finden sie interessanterweise nicht auf den Britischen Inseln oder in den USA, sondern in Kopenhagen.
Vor fünf Jahren hatte Anne Imhof den „Goldenen Löwen“ bekommen. Damals musste ich vor dem deutschen Pavillon 45 Minuten Schlange stehen, um ihre Arbeit „Faust“ als besten nationalen Beitrag erleben zu können. Sie hatte nicht nur Wirklichkeit aufgearbeitet, sondern eine prekäre Situation in Aussicht gestellt, in die wir als Gesellschaft kommen, wenn wir unser Ego über alles stellen.
Zwei Biennalen später suche ich im Pavillon von Deutschland vergeblich nach etwas Ähnlichem. In dem historisch belasteten Bauwerk ist diesmal einfach nichts zu sehen. Genau das könnte eventuell einen neuen Zugang zu den Räumen schaffen, versuche ich meine erste Enttäuschung zu rechtfertigen. Ich bin ja willens, mich auf das Projekt „Relocating a Structure“ von Maria Eichhorn (1962) einzulassen. Später erfahre ich, dass es aus finanziellen Gründen nicht wirklich verwirklicht werden konnte. Die Künstlerin wollte den Pavillon tatsächlich von der Bildfläche verschwinden lassen, um den Blick tatsächlich frei für das Dahinter und Darüberhinaus zu kriegen. Die Natur sollte dann die Gelegenheit haben, sich das Terrain anzueignen. Auf diesen Gedanken soll ich in diesem Nichts nun selbst kommen? Will ich nicht, verstimmt, wie ich über diese verkopfte Zumutung bin.
So komme ich in den Pavillon von Südkorea gleich nebenan. Die Ausstellung „Gyre“ erkundet die Welt als ein Labyrinth. Der „Wirbel“ erfasst mich zwar nicht, doch spüre ich beim Umhergehen zwischen den Objekten eine seltsame Anziehungskraft und die Neigung ihr nachzugeben. Der Künstler Yunchul Kim ruft das mit seinem Universum aus Installationen hervor, die die modernen Wissenschaft mehr parodieren als illustrieren. Beeinflusst von kosmischen Ereignissen, von Licht, von irdischer Atmosphäre und der unmittelbaren Umgebung schafft er Gebilde und nennt sie „Die geschwollene Sonne“ oder „Der Pfad der Götter“ oder „Die freie Natur“.
Sein Objekt „Sternenstaub“ ist eine Anspielung auf das gleichnamige Theaterstück „La Poussière de Soleils“ des französischen Dichters und Schachtheoretikers Raymond Roussel. Das Stück „Sonnenstaub“ handelt von einer „großbürgerlichen, sorglosen Welt von Sammlern und Müßiggängern, deren Arbeit im Katalogisieren der Schätze, im Erforschen von Geschichten und im rauschhaften Erzählen dieser Geschichten besteht. Die Erzählenden kommen jedoch zu keiner Kommunikation, sie verlieren sich in den Legenden und Anekdoten, die manchmal wie Denksportaufgaben ineinander verschachtelt sind.“ Künstliches verschmilzt Yunchul Kim mit Natürlichem und erfindet sogar ein neues Material, das er Vermiculit nennt. Nur durch spezielle Linsen wird es sichtbar. Wird es mit Microcomputern und entsprechender Software verbunden, kann es das Verhältnis von Wellenlänge und Intensität von Lichtstrahlen steuern.
Das Objekt „Chroma V“ reagiert mit Atem und Pulsieren auf „Die geschwollene Sonne“, von der es Signale empfängt. Allmählich erahne ich das interagierende Netzwerk des Ganzen, das den Innenraum des Pavillons durchdringt und Anziehungskraft entwickelt.
Der Beitrag für Japan überrascht mich mit einem konzeptionellen Bezug zur documenta fifteen. Dumb Type ist ein Künstlerkollektiv mit Akteuren aus den Genres bildende Kunst, Theater, Tanz, Architektur, Musik und Computerprogrammierung. 1982 fand es zusammen und zeigt sich seitdem auf Kunstausstellungen und Performances, in audiovisuellen Medien und Publikationen. „Wir waren frustrierte Künstler und wollten anfangen, mit unseren Fähigkeiten etwas Neues zu schaffen. Die meiste Zeit verbrachten wir damit, über Gesellschaft oder was auch immer zu diskutieren, nicht über bestimmte Kunstdinge. Wenn jemand eine Idee hatte, wurde sie auf einem Blatt Papier präsentiert. War die Gruppe interessiert, wurde sie verwirklicht. Zuerst ist die Idee sehr offen, dann wird sie allmählich sehr konkret. Auf diese Weise sind wir wirklich demokratisch. Die Mitglieder wollen nicht als Einzelne glänzen.“
In ihrer ersten Show ging es darum, wie Technologie zu einer dunklen Materie im täglichen Leben der Menschen wird. Da sich das Kollektiv für jedes Projekt neu zusammenfindet, tragen beide den gleichen Namen. In „Dumb Type“ drehen sich Spiegel, die auf vier Ständern aufgestellt sind, mit hoher Geschwindigkeit und projizieren mittels Laserlicht Texte auf die Wände des verdunkelten Ausstellungsraums. Die Texte für „Dumme Letter“ stammen aus einem Lehrbuch für Geographie aus dem Jahr 1850. Gleichzeitig werden von rotierenden Lautsprechern Stimmen, die die Texte lesen, in den Raum gestrahlt. Das Ganze soll unsere Wahrnehmungen und Kommunikation in Zeiten von Internet, Social Media und Pandemie abbilden.
Die Wandschrift FINLANDIA NORVEGIA SVEZIA am Eingang zum Gemeinschaftspavillon der drei skandinavischen Länder ist mit Baumrinde abgedeckt. Für die Biennale wurde er in Samischer Pavillon umbenannt.
Máret Ánne Sara, Pauliina Feodoroff und Anders Sunna sind drei Künstler:innen, die das indigene Volk der Sámi repräsentieren. Früher wurden die Sámi ‚Lappen‘ genannt. Zum Beispiel bei Hans Christian Andersen trifft in dem Märchen „Die Schneekönigin“ die mutige Gerda auf der Suche nach ihrem entführten Freund Kay, den die Schneekönigin gefangen hält, eine alte Lappin. Bei ihr darf sich sich aufwärmen, bekommt Essen und Trinken und den Weg gezeigt. Noch vor der Dreistaatenlösung reichte das Siedlungsgebiet der Samen über Teile des heutigen Schweden, Norwegen und Finnland bis zum Weißen Meer und der Barentsee. Mit Folklore hat das, was mir gezeigt wird, rein gar nichts zu tun. Ausdrücklich politisch ist diese Kunst, erzählt von Kämpfen um Lebensrechte. Zum Beispiel um Selbstbestimmung über ihre Rentierherden.
Noch arbeiten die meisten Sámi in der Rentierzucht, aber Klimawandel, Massentourismus, Staudämme verändern die Bedingungen. Noch 2010 schrieb die UNO: „In den letzten zehn Jahren hat die schwedische Politik die Sami nicht als Menschen behandelt, die den Status einer indigenen Bevölkerung besitzen, sondern im besten Fall wie eine nationale Minderheit. Schweden hat nicht genügend Schritte unternommen, um die Partizipation der Sami entsprechend der internationalen Übereinkommen sicherzustellen.“
Aili Keskitalo, Präsidentin des norwegischen Sami-Parlaments, sagte 2015: „Jahrhundertelang versuchten die Behörden, uns zur Assimilation zu zwingen. Unsere Volksgruppe sollte für immer von der Landkarte verschwinden.“ Heute gibt es Sami-Parlamente in Norwegen, Finnland und Schweden. Allerdings wird der Raum, den die Sami als ethnische Minderheit einnehmen, ihnen nach wie vor streitig gemacht. Ellen Inga Turi, Geografin, Politikexpertin und Tochter eines samischen Züchters sagt: „Wir haben immer wieder gravierende Veränderungen durchgemacht. Man hat unser Volk aufgeteilt und entlang nationalstaatlicher Grenzen gespalten. Leute, die unser Leben nicht kannten, haben uns Gesetze aufgezwungen. Es ging darum, uns zur Assimilation zu zwingen. Wir brauchen Eigentumsrechte auf unserem Land.“
Im Pavillon von Dänemark hat der Däne Uffe Isolotto (1976) mit „We walked the Earth“ das Drama unserer Vergänglichkeit inszeniert. Ich kann mich nicht erinnern, dass mir je etwas so nahe ging.
„Wir gingen auf der Erde“ erlebe ich als eine ebenso überzeugende wie entwaffnende Zurückweisung von Hoffnung in Bezug auf eine Zukunft meiner Spezies. So präzise trennt der Künstler mich von ihr ab, dass es nicht einmal weh tut. Allen voran der Philosoph Ernst Bloch hatte während des Zweiten Weltkrieges Hoffnung als Möglichkeit entdeckt, sogar in schlimmsten Lebenslagen menschlich bleiben zu können. „Wer sind wir? Wo kommen wir her? Wohin gehen wir? Was erwarten wir? Was erwartet uns?“, fragt er im Vorwort zu seinem Hauptwerk „Das Prinzip Hoffnung“ und zieht den Schluss: „Es kommt darauf an, das Hoffen zu lernen. Seine Arbeit entsagt nicht, sie ist ins Gelingen verliebt statt ins Scheitern.“
Lange habe ich mit Überzeugung diesen Gedanken angenommen und wo ich konnte weitergegeben. Geflissentlich übersah ich, wie im Laufe meines Lebens die Schere zwischen meinen Fiktionen und der Realität immer weiter aufging. Lange habe ich mir nicht eingestanden, dass alles bei sich Bleiben im fortwährenden Wandel nicht mehr als eine temporäre Facette sein kann. Diskreditierende Kritiken wie etwa die von Theodor Adorno, Blochs Werk sei „wie ein reißendes Gewässer in dem alles mögliche Zeug, vor allem Konservenbüchsen, herumschwimmt, arm einfach an geistigem Gehalt“, machten es mir eher leicht, die Hoffnung auf Zukunft und Dauer zu verteidigen. In Verhältnissen, wie Uffe Isolotto’s Kreativität sie schauen lässt, zerplatzen sie als Selbsttäuschung wie letztlich jede wunderbare Seifenblase.
Neben dem Eingang in den Pavillon liegt ein Haufen Pferdemist. Hinter merkwürdig futuristischen Toren entdecke ich das Zuhause einer Zentaurenfamilie und dann sie selbst.
Die Frau liegt im größten Raum, der an einen Stall erinnert, auf dem teilweise mit Seegras bedeckten Boden. Ihre Augen sind blutunterlaufen, ihr Kopf ruht auf ihrem Arm, als würde sie schlafen. Sie schläft aber nicht. Aus ihrem After hängt in einem durchscheinenden, bläulichen Sack ein Fötus. Seine menschlichen Hände sind seltsam mutiert. Das könnte eine vielversprechende Anpassung an zukünftiges Leben sein, doch der Fötus ist tot. So todsicher wie sein Vater in einem anderen Raum. Dort hängt er erhängt von der Decke. Des leblosen Kindes wegen?
Wände, Fenster und Böden wirken schmutzig. In einem der Räume sind unbekannte Früchte oder verendete Lebewesen verstreut. Anscheinend wurden sie um die Behausung herum gefunden, gesammelt oder geerntet. Unter einigen hat sich eine blaue Flüssigkeit gesammelt, dieselbe, die in dünnen Kabeln an den Zentauren zirkuliert. Vielleicht ist das eine Energiezufuhr oder eine Form der Ernährung. Oder eine Droge?
An die Wände sind hier und da eigenartige Werkzeuge gestellt. Vieles scheint systematisch zu sein, doch nichts in Ordnung. Zusammenhänge bleiben rätselhaft. Anscheinend sind diese Zentauren nicht die bekannten antiken Fabelwesen, sondern ein gescheiterter visionärer Überlebensversuch?
Der norwegische Kunstrezensent Stian Gabrielsen nennt sie „ein kollapsologisches Modell der Zukunft“ und „ein Gegenargument zum Glauben an einen ewigen Zustrom technologischer Innovation, der zu immer größerer Freiheit führen wird, die Rahmenbedingungen des menschlichen Lebens zu verändern“. Kollapsologie ist ein „fatalistischer Cousin des Transhumanismus“ und Isolottos Verwandlung der Menschen in Zentauren „nicht das Ergebnis einer zunehmenden Distanz zur Natur, sondern eine notwendige Anpassung des Organismus an einen ökologischen Ausnahmezustand, der die Existenz des Menschen wieder in existenziellen Stress versetzt“. Das erschreckende Ende ist „ein – geradezu bösartiges – Korrektiv für den Wunsch, unsere Möglichkeiten und unsere Macht zu vergrößern“.
Da erscheint, inmitten meiner Erschütterung, auf wundersame Weise eine blonde junge Frau. Lose fällt ihr rotes Kleid bis dicht über ihre weißen Leinenschuhe. Eine große schwarze Stofftasche hängt ihr leger über die Schulter.
Mehrmals kreuzen sich unsere Wege, mehrmals sind wir zu zweit allein in den verschiedenen labyrinthisch wirkenden Räumen. Für ein Spiel? Soll die junge Frau meine Aussicht sein, heil wieder hier herauszukommen? Mit ihrem Handy fotografiert sie, als wäre es eine hochwertige Kamera. Ruhig und sicher bewegt sie sich wie eine Entgegnung auf meine anwachsenden Aufregung. Den gescheiterten Körpern nähert sie sich wie eine Freundin. Ihr Fotografieren ist unverhohlene Zuwendung.
Wozu das gut sein soll, möchte ich sie fragen, gehe ihr vorsichtig nach, wage aber nicht mehr. Vielleicht ist sie ja tatsächlich eine Erscheinung? Wenige Meter hinter ihr verlasse ich den Pavillon. Draußen sehe ich sie nirgendwo.