„59. Biennale di Venezia“ 4

KÖNNEN UND MÜSSEN

An meinem zweiten Biennale-Tag bin ich im Arsenale, dem Gelände der ehemaligen Schiffswerft Venedigs, das seit 1999 die zweite große Ausstellungsfläche der Kunstschau ist. In der Corderie, einem 317 Meter langen, 21 Meter breiten und 12 Meter hohen Gebäude, in dem seit dem 16. Jahrhundert Schiffsseile und Kabel hergestellt wurden, ist ein großer Teil der Hauptausstellung „The Milk of Dreams“ untergebracht.

Den ersten Raum dominiert eine zentrale Skulptur der US-Amerikanerin Simone Leigh (1967). Um einladend zu wirken, steht sie zu unumgänglich da. Als selbstbewusstes Statement hält sie mich auf Distanz. Absichtlich?

Wohler wird mir im nächsten Raum mit den amüsanten Objekten des Argentiniers Gabriel Caile (1985). Seine Skulpturen sind von spanischen, afro-arabischen und indigenen Ritualen inspiriert. In einem ärmlichen Viertel der Halbmillionenstadt San Miguel de Tucumán aufgewachsen, verwendet er Materialien, Formen und archetypische Symbole aus präkolumbianischen Kulturen. Poetisch und humorvoll bringt Gabriel Caile traditionelle Gefäße und Lehmöfen in Verbindung mit Lebensmitteln und gemeinsamem Tätigsein. Fünf Skulpturöfen – oder Ofenskulpturen? – charakterisieren Familienmitglieder: die Eltern, die Großmutter mütterlicherseits und die Großeltern des Vaters. Das ressourcenschonende Kunststück dieser Öfen ist, dass sie gar nicht beheizt werden müssen, um spürbar Wärme abzustrahlen.

Großformatig und vorhangartig ist das auf Seide gemalte Bild „Where do we come from, what are we, where are we going?“ der britischen Künstlerin Emma Talbot (1969). Beeinflusst vom Posthumanismus, setzt sie sich über die ökologischen und technologischen Zweifel an Gegenwärtigem hinweg und beschäftigt sich mit globalen sozialen und politischen Chancen. „Woher kommen wir, was sind wir, wohin gehen wir?“ übernimmt fast wörtlich die (in „Biennale di Venezia“ 3) schon erwähnten Fragen von Ernst Bloch und konkretisiert sie anhand vermehrter Fluchtgedanken aus einer umweltkatastrophalen Gegenwart. Sie tut das mit mythologischen Motiven, rhythmischen Mustern, kalligraphischen Texten und kraftvollen Farben. Damit überzieht sie die Bildfläche für die Frage, was Natur ist und ob und wie es uns möglich ist, wieder in sie hineinzufinden. Darüber hinaus spielt das Bild auf Paul Gauguins Selbstexil in das französisch kolonisierte Tahiti und seine dortige Malerei an.

Eine tolle Idee von Cecilia Alemani sind die „Zeitkapseln“. Im Sog, der in der langen Raumflucht entsteht, schaffen sie retardierende Momente, in denen ich mich orientieren und neu konzentrieren kann. In ihnen macht die Kuratorin auf nicht mehr lebende Künstler:innen aufmerksam, deren Werke und Themen sie für bislang zu kurz gekommen hält: Körper und ihre Metamorphosen; die Wechselwirkung zwischen Mensch und Technik; komplexe Zusammenhänge zwischen Mensch und (irdischer) Natur; die Entstehung neuer Lebensformen.

Die erste Zeitkapsel, in die ich komme, erinnert an die deutsche Designerin, Fotografin und Malerin Marianne Brandt (1893 bis 1983). Während ihres Studiums am Weimarer Bauhaus entwarf und baute die Chemnitzerin Gebrauchsgefäße und Lampen. Am Dessauer Bauhaus wurde sie nach dem Studium stellvertretende Leiterin der Metallwerkstatt.

Während eines Arbeitsaufenthalts 1926 in Paris schuf sie Collagen, die das Großstadtleben und Frauen im neuen Geist der feministischen Bewegung thematisieren. Dazu passen androgyne Selbstbildnisse. Mit ihrem Körper fordert sie ein selbstbestimmtes Dasein ein.

Überraschend entdecke ich einen weiteren Zentauren. Es ist ein aus Lehm geformtes männliches Exemplar, geschaffen von Prabhakar Pachpute (1986), Sohn einer indischen Bergarbeiterfamilie. Die Figur ist neben einem zehn Meter breiten surrealen Wandbild aufgestellt, das er „Entfaltung der Überreste II“ betitelt hat. Ich blicke in eine Bergbaugrube, eine geplünderte Landschaft, die von Tieren durchquert wird. Mechanische und biomorphe Formen verweisen auf eine von menschlicher Industrie und Infrastruktur durchdrungene Natur.

Die Polin Joanna Piotrowska (1985) erforscht mit psychologisch aufgeladener Fotografie Intimität, Gewalt, Kontrolle, Selbstschutz und familiäre Verspannungen. Momente der Fürsorge mischen sich mit Momenten der Angst und auferlegten Konventionen im häuslichen Bereich. Zu sehen ist männliche Gewalt gegenüber Frauen und ihr Widerstand in einer patriarchalischen Gesellschaft. Nichts davon ist vordergründig. Lange hält mich ein Bild mit zwei jungen Mädchen bei sich. Was stimmt an ihrem Beieinander nicht? Was löst eine Traurigkeit in ihrer Intimität bei mir aus, die ich nicht erklären kann? In welche Zukunft kommen sie? wollen sie? werden sie gelassen?

Eine weitere Zeitkapsel belegt der Japaner Tetsumi Kudo (1935 bis 1990). Er gehört zu der Generation, die der traditionellen Gesellschaft nach dem Zweiten Weltkrieg skeptisch gegenüberstand. Im Tokio der 1950er Jahre spielte er bei der Entwicklung der Anti-Art eine wichtige Rolle, ein Begriff, der heute mit der Dada-Bewegung in Verbindung gebracht wird, die wiederum auf den französich-amerikanischen Maler und Objektkünstler Marcel Duchamp und die Zeit um 1914 zurückgeht. Tetsumi Kudo‘s Arbeiten kritisieren zügellosen Konsumismus und politische Orthodoxie. Nach dem Umzug des Künstlers nach Paris im Jahr 1962, beschäftigt er sich mit der Verflechtung von Natur und Technologie. Seine Visionen sind Alternativen zu einer Welt, die aus menschlichen Begierden entsteht. In der Installation „Flowers from Garden“ erzeugt er mit Fluoreszenz eine unbehagliche Hightech-Aura.

Die deutsche Künstlerin Raphaela Vogel (1988) erreicht die Wirkung ihrer meist multimedialen Installationen durch eine ausgeklügelte Bearbeitung natürlicher und künstlicher Materialien wie Tierhäute, Lederstücke, Spielzeugsaurier, Pferdestatuetten. Die kombiniert sie mit digitaler Technik und zum Beispiel Metal-Soundtracks zu suggestiven mythischen oder rituellen Szenen aus der Kunstgeschichte. Inwieweit phantastisch und manipulativ das ist, hängt von mir ab. Bei „Können und Müssen“ zieht eine skurrilen Flotille weißer Giraffen einen gummibereiften Plateauwagen an mir vorbei, auf dem ein mächtiges männliches Genital montiert ist: warzenbefallen, hoden- und prostatakrebsdurchsetzt.

Texttafeln braucht es dennoch, um die Lädierungen erkennen zu können, die den Triumphzug zur Farce machen.

Precious Okoyomon (1993) hat nigerianisch-amerikanische Wurzeln. Sie lebt und arbeitet in New York, dichtet, kocht und inszeniert aus mineralem, tierischem und pflanzlichem Material begehbare Orte, in denen Felsen, Wasser, Wildblumen, Weichtiere, Pflanzen etc. zu Topografien verbunden werden, die Spuren von Kolonialisierung und Versklavung aufweisen. Zum Beispiel wird die Pflanze Kudzu – eine in Asien beheimatete Rebe, die 1876 zur Invasion wurde, als sie den Farmern in Mississippi von der US-Regierung empfohlen wurde, um Bodenerosion einzudämmen, die durch den intensiven Anbau von Baumwolle entstanden war – zum Beleg für den Zusammenhang von Sklaverei und Diaspora in der Natur.

„To See the Earth before the End of the World“ heißt der hier geschaffene Garten von Precious Okoyomon mit Bächen, Pflanzen, Pfaden und Zuckerrohr, das ihre Großmutter im Hinterhof anbaute. So heißt auch ein Gedicht von Ed Roberson, der in seiner Lyrik gern Geowissenschaftliches mit Erkenntnissen aus der Rassismusforschung und sozial basierten Sprachmustern verknüpft. Kein Garten Eden ist das, in dem Lebendigkeit sprudelt, sondern ein weitgehend trostloses Gewirr. Weil hier Kudzu wächst? Weil merkwürdige menschengroße Wollfiguren daraus aufragen? „Und man fragt sich etwas klamm, ob der neue, in alle möglichen Sphären hinein erweiterte Mensch auf dem Weg in eine gerechter verteilte Zukunft womöglich doch erst noch durch seinen Untergang hindurch muss“.

Dahinter kommt hier drinnen nichts mehr. Dieser Raum ist der letzte im Schlauchgebäude.  Nur wenige Beiträge zur Hauptausstellung befinden sich im Freien, darunter „Of Whales“ der US-amerikanischen Performer:in Wu Tsang (1982). Kind US-amerikanisch-schwedisch-chinesischer Eltern, lebt die Künstler:in in New York und Berlin.

Die Videoinstallation ist auf einer 16 Meter breiten Leinwand im Werftbecken Gaggriandre zu finden. Ausdauer ist gefragt, denn sechs Stunden dauert die Unterwasser-Bildoper. Nicht ernsthaft ist an eine so lange Verweildauer gedacht. Es geht um ein meditatives Momentum und um die Willigkeit, sich auf einen Wechsel in die Perspektive einzulassen, mit der ein Moby Dick die Welt wahrnimmt.

„Dazwischensein“ nennt die Künstler:in, was mit dem Eintauchen in die Wasserwelt, in organische und abstrakte Muster, vor sich geht.

Warum nehme ich diese Auflagen so bereitwillig an? Wegen meiner Neugier? Wegen der Schönheit dieser Arbeit? Je länger ich davor verweile, desto entspannter fühle ich – und ein ungewohntes Selbstbewusstsein. Anders als das, das mir Menschen und Gesellschaft bisher vergeblich versucht haben beizubringen.

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