Zukunftsretter

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In seinem Projekt „Instituto Terra“ rekonstruiert Sabastião Salgado auf einer Fläche von 600 Hektar Atlantischen Regenwald. Salgado, der Wirtschaftswissenschaft studierte, bevor er als Fotograf mit Bildbänden wie „Workers“, „Exodus“ oder „Migranten“ weltweit bekannt wurde, tut das seit 1999 gemeinsam mit seiner Frau Lélia, ihrem Sohn Juliano und weiteren HilfReichen auf der Bulcão Farm bei Aimorés. Die 450 Kilometer nördlich von Rio de Janeiro gelegene Familienfarm war wie viele in der Region am Ende des Jahrhunderts durch rücksichtslose Viehhaltung verwüstet. Der Boden war ausgedörrt, das Wasser verschwunden und mit ihm ein üppiger Bewuchs samt allem, was in ihm hauste.

Mit über zwei Millionen Setzlingen von mehr als 290 Baumarten wurde in nun 18 Jahren der einstige Regenwald nachgebildet. Das Land ist nicht nur wieder ergrünt, mit den Bäumen kamen auch Wasser und Getier zurück. Ein für immer verloren geglaubtes Biotop ist wieder vorhanden, erholt sich zusehends und scheint genügend Kraft für frühere Ausmaße zu haben. „Instituto Terra“ ist kein Wunderort oder Erlebnispark, sondern von Menschenhand und mit Menschenverstand Wiedergewonnenes.

Grund für Stolz besteht allerdings nicht, denn Salgado begann sein Projekt erst, als er die Menschheit als zukunftswerte Spezies aufgegeben hatte. Krank an der Seele war er nach jahrzehntelangen Aufenthalten in Not- und Todgebieten geworden und an der Erkenntnis, dass Menschen „bösartige schreckliche Tiere“ sind.

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„Pleistozän-Park“ heißt das ökologische Experiment, das Sergej Zimow seit über 30 Jahren auf einer Forschungsstation in Nordost-Sibirien in Gang hält. ‚Mission‘ nennt der russische Geophysiker, ein international anerkannter Experte für arktische Ökosysteme und Klimaerwärmung, seinen nahe Chersky, in ehemaligem Gulag-Land am Unterlauf des Flusses Kolyma betriebenen Versuch. Unterstützt wird er von seinem Sohn Nikita und dessen Frau Nastja. Helfer werden gesucht. Auf einer Fläche von 16 000 Hektar soll die Urlandschaft des Pleistozän entstehen, mit der sich die globale Erderwärmung deutlich verzögern ließe. Andernfalls taut der riesige Gletscher immer schneller auf, der sich unter Sibirien und Alaska, unter einem Fünftel der Landfläche der Erde, erstreckt. 1,6 Billionen Tonnen im Permafrost gebundenes Kohlendioxyd werden dabei frei, so viel, wie wenn man zweimal alle Wälder der Erde abfackeln würde.

Momentan, mit der beschleunigten globalen Erwärmung, erobern Tundra und Taiga diese Fläche und schützen sie vor arktischer Kälte. Anders ist das auf Grassteppen, die, wie im Pleistozän, von gewichtigen Pflanzenfressern besiedelt sind. Ein Mammut, fünf Bisons, sieben Pferde und fünfzehn Rentiere je 100 Hektar waren es. Das hat Zimow anhand von Knochenfunden ermittelt. Diese Dichte versucht er derzeit auf 1600 Hektar Fläche nachzuvollziehen. Von den Tschuktschen beschafft er Elche, Moschusochsen von der Wrangel-Insel, Wapitihirsche aus Russlands Weiten und europäische Wisente. Geplant sind Bisons aus den USA. Eine nicht mehr unwahrscheinliche Utopie sind mit Hilfe der Genforschung in die Gegenwart geholte Mammuts oder modifizierte Elefanten.

Das wieder Vorhandensein der Tiere bewirkt im Moment einen Rückgang der Temperatur von minus 7 Grad ohne auf minus 24 Grad mit Tierbestand, gemessen einen halben Meter unter der Oberfläche. Geschähe die ‚Besiedlung‘ auf einer Million Hektar, würde sich die Gletscherschmelze deutlich verlangsamen und die Erderwärmung gravierend abbremsen. Zimow ist davon überzeugt, dass allein die Natur den Menschen retten kann.

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Salgado und Zimow tun, weit entfernt voneinander, genau das Gegenteil. Einer stellt Wald wieder her, der andere verhindert ihn. Beide bemühen sich um Vergangenes. Unsere Kenntnisse über das komplexe Ökosystem Erde reichen inzwischen aus, ihr Tun nicht als Widerspruch oder Nostalgie zu verstehen, sondern als zwei Notwendigkeiten für ein und dasselbe Ziel, das wir gern ‚stabile Verhältnisse‘ nennen.

Es ist aber eine Stabilität, die nicht auf Verharren beruht, sondern in einer ständigen komplexen Verwandlung einer Vielfalt. Im fortwährenden Wandel liegt das Geheimnis für jenes Gleichgewicht, das die belebte irdische Natur mit ihrer über Jahrmillionen erworbenen ‚Erfahrung‘ zu behalten versucht, indem sie immerfort agiert, sich wandelt, umstrukturiert, modifiziert. Erst dadurch dauert sie an. Nur dadurch wird diese Dauer irgendwann einmal wahrnehmbar. Mit uns! Von da an aber ist sie eine der Grundvoraussetzungen, ohne die sie und wir sehr schnell wieder von der Bildfläche verschwinden.

Gemeinsam ist beiden Projekten, dass sie die Bedeutung der (von uns) unberührten Natur erkennen und daraus die Notwendigkeit ableiten, solche Regionen in nennenswertem Ausmaß zu erhalten oder wieder einzurichten. „Ich bin überzeugt davon, wenn die unberührten Ökosysteme verschwinden, dann überlebt auch der Mensch nicht. Unsere Zivilisation mit ihrem billigen Öl und den Städten ist dem Untergang geweiht“, sagt Zimow. Salgado zieht diese Einsicht vor allem aus der Beobachtung der Menschen im Umgang miteinander.

„Nicht in der geträumten Unabhängigkeit von den Naturgesetzen liegt die Freiheit, sondern in der Erkenntnis dieser Gesetze, und in der damit gegebenen Möglichkeit, sie planmäßig zu bestimmten Zwecken wirken zu lassen“, schrieb schon 1877 Friedrich Engels. Auf diese Freiheit bezieht sich Zimow, wenn er heute sagt: „Den meisten ist nicht sofort klar, dass nichts wertvoller ist als Freiheit. Wir verdienen Geld, um diese Freiheit zu erlangen. Aber warum das Ganze, wenn man sie sofort haben kann. Wozu dieser Umweg über Geld, über Karriere oder Macht“. Sein Fazit scheint eine Provokation zu sein:

„Wir müssen die Zeit zurückdrehen, um die Zukunft zu retten.“