“documenta 14” 1

In fortwährender Beschleunigung sind fünf Jahre eine lange Zeit. 2012 eröffnete ich meinen Blog mit zwei „Kunst-Gängen“ durch Gebäude und Gelände der „dOCUMENTA (13)“. Der Besuch der „documenta 14“ ist eine Gelegenheit, diesen Zeitraum zu verklammern und in eine Frist umzuwandeln, in der ich, zunehmend bewusster, LebensZeichen aussende, resümiere und vorausblicke. Geblieben ist die Neugier auf die Welt und die Neugier auf die Kunst weltweit. Wie reagieren kreative Menschen auf die Eigenart der Gattung, sich selbst immer konsequenter in Frage zu stellen? Wie lösen sie Maß und Anmaßung in ihren Lebensweisen auf?

Der Kamera-Akku ist diesmal noch schneller leer als vor fünf Jahren. Der eigene auch? Von Überdruss im Laufe der ‚Begehung‘ kann keine Rede sein, trotzdem habe ich nach gut sechs Stunden genug gesehen. Weil ich, unabhängig vom Vorhandenen, das für mich Wesentliche erfasst habe?

Diesmal ist es ein Donnerstag. Ich parke in einer Nebenstraße unweit dem Bahnhof und  kann bequem zu Fuß zum Friedrichsplatz laufen. Dort muss ich nur zehn Minuten für ein Ticket Schlange stehen. Auch sonst ist es den ganzen Tag über nirgends überfüllt. In eine einzige kurze Warteschlange gerate ich in einem engen Aufgang zu einem Ausstellungsraum im „Fridericianum“, die eher seine Gebäudelage verursacht als übermäßiger Andrang.

Zuvor aber bin ich erst einmal auf dem Platz, auf dem 2012 „Doccupy-Camper“ gegen den Kapitalismus kampierten. Dort ist diesmal nach dem Vorbild der Athener Akropolis der „Parthenon der Bücher“ errichtet, ein Projekt der argentinischen Konzeptkünstlerin MARTA MINUJÌN und ein imposantes Zeichen gegen Verbote von Texten und die Verfolgung ihrer Verfasser.

Es ist eine Wiederaufnahme ihrer eigenen Arbeit aus dem Jahr 1983, mit der sie, kurz nach dem Zusammenbruch der Militärdiktatur, Bücher zeigte, die in dem überwundenen Regime verboten waren. In Kassel geht es ihr darum, den Tempel aus ungefähr 100 000 einst oder gegenwärtig verbotenen Büchern entstehen zu lassen. Die Aussichten sind gut, dass das bis zum Ende der Kunst-Schau gelingt.

Dann wäre im Ganzen gelungen, was sich aus Verketzertem und Geschändeten zusammensetzt, sich – nicht totzukriegen – in hehrer Gestalt über niedrige Gesinnungen erhebt und gleichzeitig auf sie verweist.

Als Mahnung oder als Gegebenheit? Diese Irritation wird mir mit auf den weiteren Weg an diesem Tag gegeben und darüber hinaus für den Ort, von dem ich komme. Verknüpft dieser Parthenon aber auch Kassel mit der griechischen Metropole, mit der die „documenta 14“ die Kunst der Welt teilt? Sind es nicht die Dramen, die sich hier wie dort abspielen?

Im „Friedericianum“, in der „documenta-Halle“, in der Karlsaue, im „Palais Bellevue“ und in der „Neuen Galerie“ setzt sich der Eindruck einer inzwischen unerbittlichen, einer auf Gedeih und Verderb mit der Realität verknoteten Kunst fort. Natürlich weiß ich, dass das die Konzeption der Kuratoren ist, nur eben, und das wird (mir) beim Gang bewusst, keine beliebige.

In einem DAYBOOK entwickelt das Team „eine politisierte, transversale Lesart unseres gegenwärtigen Augenblicks und der mit ihm verbundenen Geschichten“. Dafür wird jedem der 163 Ausstellungstage in Athen und Kassel ein_e Künstler_in zugeordnet und dieser Kalender mit einer Zeitachse überlagert, die entsteht, weil jede_r Künster_in ein für sich bedeutsames Datum genannt hat. Diese Daten reichen von der Zukunft bis an jenen Anfang, an dem das Wort (Joh.1,1) oder die Stille (Georg Büchner) oder die Tat (Johann W. v. Goethe) gewesen sein soll. Ein READER geht dem Konzept der „documenta 14“ mit der Frage nach, „wie die Turbulenzen der Vergangenheit und der Gegenwart unsere gemeinsame Zukunft prägen werden“.

Beide ‚Begleiter‘ sind teuer genug, mir nur einen zu leisten. Ist es abwegig, dass ein Staat im Interesse der Bildung seines Vokes solche Editionen subventioniert? Es wäre der erste Staat, der mehr daran interessiert ist, als an brauchbaren Untertanen.

Spielerisches, das die Lust am Zufall feiert und der Ernsthaftigkeit die Langeweile raubt, fehlt dennoch nicht, und wie es um seine Freiheitsgrade bestellt ist oder ob ich um schieres Vergnügen heute mehr denn je bangen muss, wird ebenfalls untersucht und ist auf jeden Fall zu spüren.

Auf den Boden der Eingangshalle des „Fridericianum“ projiziert NIKOS ALEXIOU ein farbenfrohes geometrisches Muster, das mit digitaler Technik Mosaike eines orthodoxen Klosters ins 21. Jahrhundert transformiert. Buntgeduscht nach kurzem Aufenthalt darauf/darunter, kann ich die Farbpartikel in der Sammlung des Athener Nationalen Museums für zeitgenössische Kunst gut verteilen. Sensationelles ist nicht zu entdecken, aber Traditionelles hat hier ein Ausmaß, von dem sich im Lutherland nur träumen lässt. Da mögen Nasen sich despektierlich rümpfen, aber auf solchem Grund Entstandenes hat wohl eine deutlich längere Halbwertszeit, ist besser vor Entfremdung geschützt und liefert eine solide Basis für Aussichtsreiches.

Auch Kontinuität ist ein Wort, das sich gern in diesen Umkreis fügt. LUCAS SAMARAS, Gast der „documenta“ 4 bis 6, bedient sie nach 40 Jahren erneut. Mit Spiegeln faltet er den Raum auseinander und ermöglicht dem Betrachter einen Wechsel der Perspektive, ohne dass der eigene Blick verändert oder der Standort verlassen werden muss.

„Hopscotch“ nennt VLASSIS CANIARIS sein Environment aus dem Jahr 1974. Kopflose Attrappen stehen um ein Hüpfspiel herum, das auf Mechanismen einer Arbeitsmarktpolitik für Immigrant_innen deutet und gemeinsam mit anderen Objekten auf die Lebensbedingungen jener „Gastarbeiter“, die schon seit den späten 1950er Jahren durch das westliche Europa ‚wandern‘. Reflektiert wird die für diese Gruppe seit einem halben Jahrhundert unsichere Wirklichkeit, wird territoriale Verdrängung, gesellschaftliche Ausgrenzung, nationale Identität und verweigertes Bürgerrecht.

Um über Nationalflaggen zu laufen, die COSTAS VAROTSOS digital auf Acrylglas gedruckt und auf dem Boden eines Turmzimmers ausgelegt hat, muss ich die schon erwähnte Wartezeit nehmen. Auch beim vorsichtigen Gehen bricht und splittert es unter den Füßen, und nach und nach entsteht ein Scherbenteppich, in dem sich das Stolznationale in kunterbunte Unkenntlichkeit auflöst. Ist das zu naiv für die bitterböse Wirklichkeit?

In der „documenta“-Halle zeigt der mexikanische Komponist GUILLERMO GALINDO seine „Fluchtzieleuropahavarieschallkörper“. Auch er nimmt eine Idee wieder auf, die dem Projekt „Border Cantus“ von 2012 zugrunde lag, für das er entlang der amerikanisch-mexikanischen Grenze, „eine der am stärksten militarisierten Zonen Nordamerikas, von Flüchtlingen, Migrant_innen und Grenzschützer_innen“ zurückgelassene Objekte sammelte und sie in Instrumente verwandelte, in „Konstrukte, die in die Welt hinaus klingen“.

Für Kassel und Athen hat Galindo neue Musik für Grenzüberschreiter komponiert und durch subtile Eingriffe an Fundstücken neue Instrumente geschaffen: „Mesoamerikanische Kulturen gehen davon aus, dass unsere Besitztümer und die Geräusche, die diese machen, auf vielfältige Art mit unserer Reise auf diesem Planeten verbunden sind.“

Mit seiner Arbeit „Aufstand“ betrachtet der Malinese ABOUBAKAR FOFANA „die bisher unbemerkten Facetten der Substanz Indigo. Indigo wurde von verschiedenen Kulturen aller Kontinente verwendet. Es verfügt über eine tiefe spirituelle Bedeutung und setzt sich gegen die Vergänglichkeit restriktiver Denkweisen durch. Vom 17. bis 19. Jahrhundert war Indigo ein Symbol für Status und Gesundheit in ganz Europa. Ab den 1740er Jahren wurde insbesondere South Carolina zu einem Hauptlieferanten. Mit der hohen Nachfrage stieg auch die Einfuhr afrikanischer Sklav_innen nach Amerika, und die wachsende Gier führte zu einer weiteren Enteignung von Grund und Boden der Ureinwohner_innen. Später beschleunigten Chemiekonzerne die synthetische Herstellung von Indigo.“ Dies ließ natürliche Methoden und Jahrhundertealte Traditionen schrumpfen.“

In Frankreich zu einem Meister der Kalligrafie gereift, kehrte Fofana nach Westafrika zurück, sammelte – sein Lebenswerk – das in der Industrialisierung zerfallene Wissen über die natürliche Herstellung des Indigo und holte in Jahrzehnten verlorenes Wissen zurück, schuf eine Poesie des Indigo: blaues nichts / ein hauch von blau / pastellblau / lebendiges blau / azurblau / blauer horizont / ultramarinblau / klares dunkles tiefes / himmelsblau

„Fofanas Werk ist als bewusster Versuch zu verstehen, seine Techniken und Materialien ebenso zu bewahren und zu schützen wie das Umfeld und die Philosophien, die sie hervorgebracht haben. Die natürliche Welt in Kombination mit unseren menschlichen Fähigkeiten ist für ihn unser aller Anfangs- und Endpunkt zugleich.“