Hunger erinnert meinen Körper an Notwendiges. Fehlt Essen und ich kann es nicht beschaffen, bin ich in Not und verspüre meine Frist. Essen hält mich am Leben, öffnet mir die Zeit.
Ernsthaft hungern musste ich nie, weiß bis heute nur von Fotos, Filmen und Berichten vom Hunger und alltäglichem Verhungern. Viele Erwachsene meiner Kindheit hatten den bedrohlichen Mangel an LebensMitteln in der Folge eines furchtbaren Krieges noch gut in Erinnerung. Deswegen empfinde ich meine LebensLage als ein Privileg. Glücklich hat mich das nicht gemacht. Auf jeder Sättigung liegt wie ein Schatten oder Abdruck ein Gefühl für HungersNot.
Wenn ich als Schulkind einkaufen musste, bereitete die Großmutter – ich wuchs bei den Großeltern auf – jedes Mal einen Einkaufszettel vor. Dazu bekam ich Geld in einem Portemonnaie und ein Stoffnetz für den Transport. So machte ich mich auf kurze Wege zum Bäcker, Milchgeschäft, Konsum oder HO-Laden. Für Milch kam eine Kanne hinzu. Brot und Semmeln kamen direkt ins Netz. Butter wurde von Verkäuferinnen von einem imposanten Block geschnitten, abgewogen und in fettabweisendes Papier verpackt. Obst, Gemüse und Kräuter kamen aus dem Schrebergarten der Großeltern. Kartoffeln wurden im Herbst mit einem Fuhrwerk angeliefert und im Keller gelagert. Kuchen wurde daheim gebacken. Getrunken wurde Tee oder Kaffee oder Wasser, das ich dann und wann mit Brausepulver zum Sprudeln brachte. Am köstlichsten schmeckte es jedoch eiskalt aus der Leitung, wenn ich abgehetzt vom Tollen im Freien nach Hause kam. Wein, Bier, Fassbrause, Selters wurde eingekauft, wenn Besuch da war oder für die jährlichen Feste. Dann gab es auch Schokolade und Naschwerk, das in seltenen Westpaketen steckte, die die Mutter schickte.
In den 1950er Jahren lebten ungefähr drei Milliarden Menschen auf der Welt. Demnächst werden es acht sein. Damals ließen die vorhandenen LebensMittel anderswo noch genügend Hunger übrig. Was ist geschehen, dass heute jeder satt werden könnte aber immer weiter Hunger gelitten und daran gestorben wird?
Einmal wurden in großem Umfang neue Flächen für Ackerbau und Viehzucht erschlossen und mit Hilfe von Technik und Chemie in Wachstumsindustrien verwandelt. Andererseits kam in einer von Kapital und Konkurrenz getriebenen Wirtschaft der Wille zur gerechten Verteilung abhanden. Also ist Hunger momentan keine Naturnotwendigkeit, sondern die Folge fehlender Vernunft und Empathie. Ist unser Wille die notwendige Bedingung für ausreichendes Essen für jeden, ist die hinreichende, dass jeder selbst- und seiner Umgebung bewusst isst.
In meiner Kindheit war ausreichendes Essen mehr im Fokus als gesundes, das heute hierzulande jedes Gesundheitsmagazin und Koch-Show thematisiert. Unwichtiger war die Gesundheit früher deswegen nicht. Sie war nur ein selbstverständlicherer Bestandteil der LebensMittel. Ich muss kein Arzt oder Ernährungswissenschaftler sein, um zu begreifen, dass es nicht egal ist, wann ich was und wie viel wovon und woher ich esse und auch nicht, wie LebensMittel erzeugt und verteilt werden. Vor dem Anthropozän hat das komplexe System Natur für einen funktionierenden Stoffwechsel der Lebewesen gesorgt. Jetzt, dem Irrtum erlegen, Natur beherrschen zu können, stümpern wir eigenverantwortlich an unserer Versorgung herum, dem Desaster näher als dem Erfolg und sehen langsam ein, sehr langsam, dass wir anders essen müssen, wenn wir weiter leben wollen.
Wir werden wohl wieder von dem satt werden müssen, was in nächster Umgebung vorhanden ist oder gezüchtet und angebaut werden kann. Gelingt das nicht, sollten wir schleunigst die Umgebung wechseln oder unser Essen oder unsere Anzahl verringern. Jede Region des Planeten muss ihre Bevölkerungszahl ständig den natürlichen und innovativen Gegebenheiten anzupassen. Acht Milliarden Menschen sind viel zu viele. Klimawandel und Artensterben hängen mit unserer Population zusammen. Wenn wir uns weiterhin auf Kriege, Pandemien und Umweltkatastrophen als Regulative verlassen, ist das zynisch und zukunftslos.
Als Weiteres muss das Hinzuholen von LebensMitteln wieder zur Ausnahme werden. Stattdessen gehört die Wertschätzung regionaler Produkte mit hoher Qualität in den Mittelpunkt des allgemeinen Interesses, nicht etwa um anderes abzuwerten, sondern um eine Lebensweise zu unterstützen, mit der die eigene Umgebung zum wünschenswerten Lebensmittelpunkt wird. Und warum soll das, was wir essen, sich, solange es das wird, nicht ebenso gut fühlen, wie wir es beim Verspeisen tun?
Der Erzeugung von Essen darf nur insoweit ‚nachgeholfen‘ werden, als natürliche und industrielle Kreisläufe nicht verlassen werden, also nachhaltig bleiben. Die Überproduktion von LebensMitteln darf nur erlaubt sein, wenn sie woanders Versorgungslücken schließt. Maßgabe ist der tatsächliche Bedarf und ist zu planen. Planwirtschaft! Oh ja, wie schrecklich! Entsprechend ist die Vorratshaltung in jeder Region zu organisieren. Grundsätzlich gilt, dass wir uns so weit wie möglich selbst versorgen und gleichzeitig darauf achten müssen, dass das auch unseren Nachbarn gelingt.
Daraus folgt, dass die LebensMittelErzeugung mit dem Ziel einer ausreichenden und nachhaltigen Versorgung keine Wachstumsbranche mehr sein darf. Ökonomische und soziale Strukturen sind dahingehend zu verändern.
Gefragt ist KochKunst, ist ein phantasievoller Umgang mit LebensMitteln, ist ein saisonal differenziertes Angebot zugunsten einer Essensweise, die den notwendigen Bedarf ignoriert. Was ich nicht notwendig zum Leben brauche, sollte ich deswegen nicht LebensMittel nennen. Könnte ich NahrungsMittel nennen, auf die ich nicht verzichten muss aber wieder als Luxusgut begreifen sollte, als Extragenuss, mit dem ich mich zum Beispiel für mein ‚anders essen‘ belohne.
Mehrfach habe ich in diesen Prämissen das Wort ‚wieder‘ verwendet. Damit meine ich nicht, dass Essen so werden könnte wie in vergangener Zeit. Das geht natürlich nicht. Die scheinbar selben Grundstoffe wie Getreide, Obst, Gemüse, Tiere werden heute nicht nur anders gehalten, gewonnen bzw. verarbeitet, sondern sind von vornherein schon anders beschaffen. Außerdem ermöglichen, anders als früher, Kühl-, Frischhalte- und Transportsysteme einen völlig anderen Umgang mit LebensMitteln und produzieren en passant immense Mengen CO2. Früher wurde anders und viel kürzer konserviert.
Das ‚wieder‘ mahnt vor allem eine wünschenswerte Distanz zu einer NahrungsMittelProduktion an, wie sie in der heutigen Überflussgesellschaft – die, wie der Name schon sagt, überflüssig ist – üblich ist und anderswo mit nackter Existenz, mit dem Leben, bezahlt wird.
Essen sollten wir und nicht fressen und unsere Vorbilder aus der Tierwelt holen, der wir – welche Selbstverkennung! welche Peinlichkeit! – so gern letzteres unterstellen. Aber wir sind nach wie vor die Fresser und sollten uns schleunigst eines Besseren befleißigen.
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