Viel zu viele sind wir

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Vor 50 Jahren gab der Club of Rome eine Studie in Auftrag, in der zum ersten Mal ein Computer unsere möglichen Zukünfte simulierte. „The Limits to Growth“ („Die Grenzen des Wachstums. Bericht des Club of Rome zur Lage der Menschheit“) sorgte weltweit für Aufsehen. Das erste Mal wurden Trends und Szenarios errechnet, die den Einfluss der Menschheit auf die Umwelt zeigte.„Wenn die gegenwärtige Zunahme der Weltbevölkerung, der Industrialisierung, der Umweltverschmutzung, der Nahrungsmittelproduktion und der Ausbeutung von natürlichen Rohstoffen unverändert anhält, werden die absoluten Wachstumsgrenzen auf der Erde im Laufe der nächsten hundert Jahre erreicht“, heißt es in dem Bericht. Das ungebremste Anwachsen nur eines dieser fünf Faktoren reicht aus, um die irdische Natur aus dem Gleichgewicht und die Menschheit in existenzielle Schwierigkeiten zu bringen.
Naturkatastrophen, Flüchtlingsströme oder Pandemien sind demnach sichere Anzeichen, dass wir insgesamt nicht sorgfältig, nicht vernünftig und nicht gemeinschaftlich genug leben. Von den Menschen verursachte Klimaveränderungen wurden angekündigt.
Ein halbes Jahrhundert später sieht es so aus, als sind die großen Erwartungen in unsere Vernunft eine Fiktion. Einerseits verschafft sie uns hoffnungsvolle Aussichten, andererseits stellt sie uns mehr als alles andere in Frage.
Lange habe ich die fünf Faktoren aus der Studie als gleich-wichtig angesehen. Inzwischen halte ich unsere Anzahl für den grundlegenden Faktor. Viel zu viele Menschen bevölkern die Erde heute und forcieren die lebensgefährlichen Veränderungen.

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1973 entstand unter dem Eindruck der Studie des Club of Rome in Hollywood der Sience-Fiction-Film „Soylent Green“, in der deutschen Fassung: „2022 … die überleben wollen“. Weil die Menschheit bis 2022 endliche Ressourcen im Übermaß verbraucht, die Verantwortung für ihren Lebensraum ignoriert und sich hemmungslos vermehrt hat, wird in New York das Nahrungsmittel „Soylent Green“ erfunden. Es wird nicht, wie man der Bevölkerung glauben macht, aus Algen hergestellt, sondern aus Menschen, die zuvor, in einem religiös verbrämten Ritual, allein für diesen Zweck getötet werden.
Nicht minder beunruhigend als die neokannibalistische Dystopie löst der Film „Logan’s Run“, in der deutschen Fassung „Flucht ins 23. Jahrhundert“, das Dilemma der viel zu vielen. In dem US-amerikanischen Klassiker von 1976 lebt eine Wohlstandsgesellschaft unter einer gewaltigen Kuppel, die vor der für unbewohnbar erklärten Erdoberfläche schützen soll. Vorgegaukelte Unsterblichkeit soll die Eingesperrten ‚bei der Stange halten‘. ‚Erneuerung‘ heißt eine durchaus eindrucksvolle Zeremonie, der sie sich im Alter von 30 Jahren unterziehen müssen. Tatsächlich werden sie einfach nur umgebracht.
1970 erschien in der DDR die Erzählung „Schwierigkeiten beim Verständnis der Narayama-Lieder“ des japanischen Schriftstellers und Musikers Shichiro Fukazawa, die in seiner Heimat schon 1957 veröffentlicht worden war. In vermeintlich archaischer Zeit entsteht in einem abgelegenen Bergdorf ein Brauch, der das Weiterleben der Gemeinschaft sichern soll. Alte Leute, wenn sie 70 Jahre werden, pilgern zum Narayama-Berg, um dort zu bleiben, um vermeintlich frei-willig zu sterben. Tatsächlich beugen die Betroffenen sich einem ungeheuerlichen Erwartungsdruck.
In der lebenden Natur ist Sterben eine Notwendigkeit. Will oder kann das bewusste Sein sich damit nicht abfinden? Das Bergdorf Muko-mura ist eine Metapher für den endlichen Lebensraum mit begrenzten Ressourcen, und Fukazawa zeigt, dass auch Vernunft nicht in der Lage ist, diese Basics zu überlisten.

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Fast acht Milliarden leben heute auf ihr. Vier Milliarden waren es 1974, zwei Milliarden, wiederum die Hälfte, im Jahr 1927. Etwa eine Milliarde Menschen zählte die Weltbevölkerung um 1800. Das mag schon immer zu denken gegeben haben, doch erst die Studie des Club of Rome identifizierte Wachstum als ein existenzielles Problem.
2015 prägte Herman Daly, ein US-amerikanischer Weltbank-Ökonom, die Begriffe ‚leere Welt‘ und ‚volle Welt‘. Nach 1700, als im europäischen Raum rationales Denken anfing, den technischen Erfindungen und Entwicklungen hinderliche politische und ökonomische Strukturen zu beseitigen, war die Welt mit weniger als einer Milliarde Menschen noch eine leere Welt. Schäden an der Natur durch rücksichtslosen Umgang mit ihr, blieben lokal begrenzt. In der vollen Welt ist das anders.

Das greift der programmatische Bericht „Come On!“ („Wir sind dran“) des Club of Rome von 2017 auf. Anknüpfend an die 2015 erschienene „Enzyklika Laudato Si“ von Papst Franziskus, fordert er ein neues Denken für „unser gemeinsames Haus“, das der auf Egoismus und Expansion beruhende Kapitalismus gefährdet.
Mathematisch lässt sich beweisen, dass jeder Himmelskörper – also auch die Erde – die Balance verliert, wenn auch nur eine seiner strukturierenden Komponenten in exponentielle Bahnen gerät. Kommt sie von dieser mathematischen Figur nicht wieder los, kollabiert er letzten Endes so sicher, wie Zwei plus Zwei gleich Vier ist.

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Je nach Perspektive wird häufig die vorhandene oder mögliche Nahrungsmenge als Maßzahl für die Berechnung der Obergrenze der Weltbevölkerung ausgegeben. Gilt das aber noch, wenn weiterreichende Bedürfnisse vorhanden sind? Allein die Intensivierung der Landwirtschaft bewirkt gravierende Veränderungen in der gesamten Natur. Wenn wir unser Erdzeitalter jetzt „Anthropozän“ nennen, ist das der Erkenntnis geschuldet, dass unsere Umwelt-Ansprüche über die aller anderen Lebewesen hinausreichen. Wir wollen viel mehr als lebensnotwendige Nahrung, und darauf reagiert die Umwelt. Nicht uns zuliebe! Sie sucht ihr Gleichgewicht, bis sie es wiedergefunden hat, mit oder ohne uns. Oder sie löst sich auf.
Ihre Antriebe werden wir wahrscheinlich nie ergründen, unsere herauszufinden, wäre für’s Weiterleben nicht schlecht. Ein brauchbares Hilfsmittel dafür ist der ökologische Fußabdruck. Entwickelt wurde er 1994 gemeinsam von dem Schweizer Nachhaltigkeitsdenker Mathis Wackernagel und dem kanadischen Ökologen William Rees. Er bezeichnet die biologisch produktive Fläche auf der Erde, die notwendig ist, um eine bestimmte Lebensweise unter vorhandenen Produktionsbedingungen dauerhaft zu ermöglichen. Das schließt Flächen zur Produktion von Kleidung und Nahrung, zur Bereitstellung von Energie, zur Entsorgung von Müll und zum Binden des durch menschliche Aktivitäten freigesetzten CO2 ein.
Die Summe aller ökologischen Fußabdrücke stellt fest, ob und wie weit die Menschheit in bestimmten Gebieten und insgesamt über ihre Verhältnisse lebt oder nicht. Wenn aber nicht, kann der Ausweg nur sein, entweder die Lebensweise zu ändern oder die eigene Anzahl. Am besten beide.

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Das mit der Lebensweise: muss das wirklich sein? Lieber nicht. Dann also: Wie werden wir wieder weniger? Wir fragen lieber wo. Natürlich dort, wo am meisten geboren wird. Dort stirbt es sich ja auch am schnellsten. Wo Hunger und Not am größten sind. Und der Fußabdruck am kleinsten? Na wennschon.
Einfach machen wir es uns gern. Ja, der globale Süden ist sehr bevölkert, aber seit Karl Marx‘ „Das Kapital“ (Kapitel 24) oder Jan Zieglers „Der Hass auf den Westen“ kann jeder wissen, dass seit Jahrhunderten unsere Götter, unsere Gier, unser Allmachtswahn die Menschheit in die heutige Lage gebracht hat.
Könnte uns ab einem bestimmten Grad der Vernunft nicht dämmern, dass regionale Geburtenkontrolle, Abtreibung und Sterilisation, ständig wiederholte (Schuld)Zuweisungen, scheinheilige Diskurse oder das Schachern mit Kontingenten nicht ausreichen werden, die Situation global zu verändern?
Gefragt sind Strategien, die nur entstehen werden, wenn jeder Einzelne einer großen Mehrheit bereit ist, die eigene Perspektive zu wechseln und sich verantwortlich zu fühlen. Zu fühlen! Erst dann kann ich etwas für mich tun, ohne meiner Umgebung Schaden zuzufügen. ‚Dialektik‘ heißt dieses Prinzip, im alten Griechenland als „Kunst der Unterredung“ bekannt, seit dem 18. Jahrhundert als Diskurs zwischen These und Antithese, der in eine Synthese mündet.
Ich muss nicht unbedingt ein Gutmensch werden, um Richtiges und Wichtiges zu tun. Ich muss nur in der Lage sein, den Mittelpunkt der Welt, in dem ich mich so selbst-verständlich sehe, verlassen können, um andere Perspektiven wahrzunehmen und mit dieser Erfahrung wieder zur eigenen zurückkommen. Erst solche Beweglichkeit kann Jean Paul Sartres „gemeinsames Individuum“ hervorbringen, eine Gemeinschaft, die, wie er zeigt, zu mehr in der Lage ist, als alle ihre Einzelnen.
Die Menschen, die der Planet verträgt, kann auch niemals eine feste Anzahl sein. Sie ergibt sich immerfort neu aus der Wechselwirkung zwischen den Menschen und einer sich (auch ohne uns) immerfort verändernden Umwelt. Ich halte heute zwei Milliarden Menschen für eine der Erde gut verträgliche Zahl.

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Albert Einstein hat mit der Speziellen und Allgemeinen Relativitätstheorie ein Tor zur Erkenntnis von Zusammenhängen geöffnet, die sich der anschaulichen Vorstellung entziehen. Ihre Bedeutung reicht inzwischen an vielen Stellen über die Wissenschaft hinaus in die Lebenswirklichkeit. Das 1950 von dem US-amerikanischen Mathematiker John Forbes Nash Jr. entdeckte und nach ihm benannten Gleichgewicht hat sie leider noch nicht erreicht. Danach sind wir, auf verlässlicher Mathematik beruhend – unabhängig von ethischen und moralischen Voraussetzungen – sehr wohl in der Lage, vernünftige Entscheidungen zu treffen. Einzige Bedingung ist, dass wir gescheit agieren. Ist das zu viel verlangt?
Das Nash-Gleichgewicht beweist die realistische Chance, aus Sackgassen, in die wir von Anbeginn an wie die Wilden hineinlaufen, wieder herauszufinden und zwar ohne ganz Andere werden zu müssen.

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