Schubladen

In der Renaissance, einer Epoche, der die Wiederbelebung der kulturellen Leistungen der griechischen und römischen Antike zugeschrieben wird, soll – ganz ohne antikes Vorbild – die Schublade erfunden worden sein. Bis dahin waren Truhen die gängigen Aufbewahrungsmöbel. Der Unterschied ist offensichtlich. In Truhen Verwahrtes ist vertikal geschichtet. Schubladen sind horizontal konstruiert und damit viel müheloser zugänglich. Mit gleichzeitig abnehmenden Rauminhalten entstand eine neue Möglichkeit, das Untergebrachte gleichzeitig zu sortieren. Insofern sind Schubladen eine schlüssige Folge wachsenden individuellen und kleinteiligen Besitzes. Sie halten ihn übersichtlich und sind ein Indiz für eine Vielfalt der Dinge, die zunehmend das Leben füllt.

Schubladen unterstützen unser wachsendes Bedürfnis nach Ordnung. Mit ihnen lässt sich Durcheinander so wunderbar auflösen, Bedenkliches so leicht von Unbedenklichem trennen – und wieder zusammenführen. Warum ist dann das ‚Schubladendenken‘ so negativ konnotiert? Weil Ordnung ein notwendiger aber keineswegs hinreichender Bestandteil von Systemen ist, die noch nicht deswegen funktionieren, weil sie in ihnen herrscht. Ordnung ist kein Wert an sich.

Neuropsychologen wissen, dass unser Gehirn fortwährend kategorisiert. Ohne die Sortierung unserer Wahrnehmungen, ohne sie ein- und zuzuordnen, fiele uns ‚leben‘ deutlich schwerer. Über Auswirkungen, über Umweltverträglichkeit, über Zukunftstauglichkeit sagt das wenig. Bedenklich wird Ordnung, wenn diese Kriterien in den Hintergrund rücken und sie sich selbst genügt. Dann kommen Regime zustande, in denen nicht Machtgier und Selbstsucht die größten Verbrechen sind, sondern Ordnungswidrigkeiten. Die weniger gemeingefährlich wären?

Viele Menschen scheinen in ihrer DNA, naturgegeben also, ein Gespür für Gefahren zu haben, viel zu selten allerdings den Willen und die Tatkraft, über das Erkennen und Einordnen hinaus ihre Wahrnehmungen zu synchronisieren und Mehrheiten zu bilden, die nach hilfreichen Strukturen im Umgang mit der Komplexität des Lebens und mit dem Muster in eigenen Hirn suchen. Schubladen sind dafür weder funktional noch metaphorisch geeignet.

So einfach ist der Umgang mit dem BewusstSein nicht. Oft sind wir stolz auf dieses Alleinstellungsmerkmal, immer häufiger verunsichert es uns. Weil wir nicht wirklich wissen, wie wir mit ihm umgehen, was wir mit ihm anfangen sollen. Wie komplex bitteschön darf es denn sein, unser Leben, um nicht konsequent daran zu scheitern? Wie weit darf er denn sein, der Rahmen unserer Möglichkeiten, um über die eigene Frist hinaus dazubleiben? Wie entwicklungsfähig sind wir, wie gestaltbar? Flexibel wären wir gern, sind aber seit eh und je und bleiben als Homo Sapiens, als dieses verstehende, verständige Immernochtier, eine ständige Gefahr im Verzug.

Mit Sicherheit – der schwesterlichen Begleiterin der Ordnung – ist das Menschenhirn keine Kommode. Die Aufbewahrung von Erfahrungen, Empfindungen und Wissen geschieht nicht in Schubladen, sondern in einem Muster, das, wechselwirkend mit der Umwelt und Seinesgleichen, EigenSinn in GemeinSinn aufhebt. Oder sich spurlos auflöst.

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