hilflos, einfallsreich

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Bin ich mit dem Gefühl, immer unsicherer zu leben, hilfloser als etwa Robert Habeck oder Sahra Wagenknecht oder Jorge Bergoglio (Papst Franziskus) oder Greta Thunberg oder António Guterres? „Ausblick am Rand des Abgrunds“ überschreibt das Onlinemagazin Manova – „für neue Perspektiven und lebendige Debatten“ – ein Gespräch, das der vom medialen Mainstream entfernte Publizist Walter van Rossum kürzlich mit der von der Uni Bonn gekündigten Politikwissenschaftlerin Ulrike Guérot führte.

Das Manova-Team will „inspirieren und zum eigenen Handeln ermutigen“ und setzt dabei „auf Vielfalt statt auf Machtkonzentration, auf Kooperation statt auf Konkurrenz“. Das ist mir sympathisch, aber bis dato war ich überzeugt, dass sich das Weltbild mit der Erde als Scheibe seit der Entdeckung der heliozentrischen Wirklichkeit erledigt hätte.

Indessen scheint uns diese Entgrenzung viel Nachlässigkeit und verantwortungslosen Lebenswandel eingebracht zu haben. Das wiederum macht unser Dasein folgenschwerer. Weil wir in ein abgrundtiefes Nichts nicht mehr stürzen können, wird unser Handeln und Wandeln umso schwieriger, je mehr uns möglich ist. Dass wir den Planeten beherrschen könnten, erweist sich als Illusion und die Idee, über uns und ihn hinaus wachsen zu können, ist einfach nur dumm. Wir können nicht die Gleichgewichte ignorieren, in die wir eingebunden sind oder wir werden aus dem Naturgeschehen aussortiert.

Vor zwei Jahren, anlässlich der Eröffnung der Ausstellung „New York 9/11“ von Yadegar Asisi im Leipziger Panometer, erzählte der deutsche Kunsttheoretiker und emeritierte Professor für Ästhetik Bazon Brock die Geschichte von zwei Säulen an der Grenze zum Abgrund. Der griechische Heros Herkules soll sie, die eine auf europäischem, die andere auf afrikanischem Boden, an der Meerenge von Gibraltar zur Warnung und Abschreckung errichtet haben.

Im 16. Jahrhundert war dieser Ort zugleich die Westgrenze des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation, bis heute das flächengrößte Imperium auf Erden. Sein Kaiser Karl V. übernahm 1522 die Säulen in sein Staatswappen, allerdings mit einer entscheidenden Korrektur. Bis dahin waren sie auf Abbildungen von dem Schriftzug NON PLUS ULTRA umwunden: bis hierhin und nicht weiter. Karl V. löste diesen Grenzzug auf, indem er ihn auf PLUS ULTRA verkürzte: und darüber hinaus. Einerseits war das den Erfolgen der Entdecker Amerikas, der langen Westküste Afrikas und des Indischen Ozeans geschuldet, andererseits steigerte es für den historischen Moment noch einmal die kaiserliche Macht. ‚Darüber hinaus‘ eröffnete der Menschheit eine neue Dimension des Daseins und verhalf dem heliozentrischen Weltbild zu globaler Verbindlichkeit.

Das hat mich weder freier, noch mein Leben ungefährlicher gemacht.

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Sind andere einfallsreicher als ich? Gelingt es ihnen besser, den Übermut des Homo sapiens zu zügeln, Einsichten zu verbreiten und in nachhaltiges Handeln umzuwandeln? Regeln aufzustellen und dafür zu sorgen, dass sie eingehalten werden? Im Gleichgewicht zu bleiben, das wir brauchen, weil wir nicht wissen, was geschieht, wenn wir es verlieren und nicht wiederfinden.

Natur funktioniert aber nicht, weil Partikel Regeln folgen und Lebewesen einem Plan. Regeln und Pläne entstehen erst aus ihrer Existenz und allem, was sie umgibt. Wechselwirkung heißt das Zauberwort.

Kann es da falsch sein, wenn wir uns mit der vergleichsweise kurzen Geschichte unserer Spezies der irdischen Umgebung, die uns hervorgebracht hat, anvertrauen? Ebenso spannend ist natürlich die Frage, für wie lange sie Bestand hat und wie sehr das von uns abhängt. Soll ich mich – wenn ich schon einmal ein so außergewöhnliches Kopfinnere besitze – darum kümmern oder um mein Wohlbefinden? Wechselwirkungen funktionieren, das weist die Wissenschaft mir ja foretwährend nach, ohne Willenskräfte. Meinen Willen halte ich vor allem für eine nützliche Einbildung, die verhindert, dass ich nicht allzu schnell den Kopf verliere. In dem er steckt. Was spricht also dagegen, die Dinge laufen zu lassen, einfach zu sehen und zu nehmen was kommt?

Wenn das nur so einfach wäre, restlos eingebettet in die Wirklichkeit, die mir fragile Sinnesorgane ins Hirn spielen, das, restlos eingebettet in einer dunklen Knochenhöhle, daraus ein Abbild macht und Möglichkeiten schafft. Wie gut meine Lebenschancen sind, hängt dann vor allem davon ab, wie nahe dieses Weltbild der Wirklichkeit kommt, wie sehr sie zum Vorschein kommt und erst infolge dessen, was ich will.

Bazon Brock erzählt vom Vorschein als Teil des griechischen Wortes Apokalypse, was übersetzt Ende des Vorscheins heißt. Tatsächlich dachte ich bisher, die Apokalypse sei mein und unser aller Ende. Das stimmt aber nur, wenn ich die Zukunft für vorherbestimmt halte. Ohnehin kann ich dann tun und lassen, was ich will. Halte ich sie aber für offen, ist der Vorschein des Endes eben nicht das Ende selbst. Es kann dann auch anders sein: weil ich etwas daran ändern kann. An meinem Lebenslauf. Dann bin ich nicht mehr hilflos.

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Von Großreichen bleibt erfahrungsgemäß nicht viel übrig, und ihre Halbwertszeit nimmt zusehends ab. Wahrscheinlich ist das so, weil wir hilflos und einfallsreich sind. Goethe gibt seinem Faust zwei Seelen. Dem großen Dichter und Freund der Wissenschaften dürfen wir zutrauen, dass er schon vor 200 Jahren wusste, wo uns der Kopf steht. Die Seele hat er seinem Helden gewiss nicht versehentlich in die Brust gesteckt. Aber gleich zwei? 

Wenn das mal gut geht.

Mit Sicherheit nicht.

Die Seelen noch weiter abwärts unterzubringen, wird selbst Goethe zu heikel gewesen sein. Erst seit wenigen Jahren sind die Körperkundler dem Bauchgehirn und dem menschlichen Mikrobiom auf der Spur, die beide im Verdacht stehen, uns am Gehirn vorbei zu beeinflussen. Aus diesem Dualismus soll unser Antrieb kommen, aus den Spannungsfeldern, die zwischen menschlich und göttlich, diesseits und jenseits, männlich und weiblich, vormals und künftig entstehen? Worauf hinaus?

Ist es nicht wirklichkeitsnäher, unsere Antriebe aus dem großen Ganzen zu entwickeln, das uns Alexander von Humboldt mit seiner Anmutung von Natur als einen komplexen Zusammenhang nahelegt. Seinerzeit hat ihm das gewiss nicht nur Beifall eingebracht. Obwohl Hegel die Dialektik als Erkenntnismethode schon entdeckt hatte, legten Humboldts Zeitgenossen weiterhin die dualistische Schablone auf das Weltgeschehen und wir, um so viel wissender, tun es heute noch gar zu gern.

Wir nageln unsere Chancen an Kreuze und fahnden nach einer Gegenwelt aus Antiteilchen. Unsere Kinder spielen weiter Räuber und Gendarm und wenn sie so groß sind wie wir, Krieg und Frieden. Wie eh und je wollen wir hoch hinaus und bleiben in uns stecken,

in der Hoffnungsfalle, die offensichtlich wurde, als kühne Seefahrer Ende des 15. Jahhunderts die Herkulessäulen ignorierten und in keinen Abgrund stürzten. Offensichtlich und doch ignoriert. Die Euphorie, die die Menschheit stattdessen befiel, angesichts der vermeintlich unendlichen Weite, verwirrt uns heute noch, denn sie ist nur eine spezielle Eigenart von  Oberflächen kugeliger Körper und auch nur erfahrbar für Lebewesen, die sich auf ihnen bewegen. Dass so eine Oberfläche unser Lebensraum ist, haben wir inzwischen begriffen. Demgemäß zu handeln, gelingt uns bis heute nicht. 

Könnten wir es, brauchten wir uns nicht abzuhetzen, um Gutes zu tun und Schlechtes zu vermeiden. Wir könnten viel CO2 einsparen und viele globale Tauschgeschäfte wären überflüssig. Wir könnten auch all die Kraft sparen, die wir aufwenden, um uns vor Bedrohungen in Sicherheit zu bringen. Gefährlich leben wir so und so. Seit Tausenden von Jahren. Das ist die schlechte Nachricht. Und die gute. Weil wir leben.

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