Finistère

Sechshundert Kilometer oder sechs Autostunden von Paris entfernt ist der westlichste Ort Frankreichs, die schroffe Klippe Pointe du Raz auf dem Cap Sizun, auf dem der Wind mit den Menschen spielt. Machte er Ernst, hielte sich hier niemand auf den Beinen. Diese äußerste Klippe wiederum liegt im Département Finistère, dem von den Franzosen willig in ihre Sprache übernommenen ‚finis terrae‘ der Römer, für die diese Gegend nachvollziehbar das ‚Ende der Erde‘ war. Das wussten die selbstbewussten Bretonen besser, die ihre Heimat ‚Penn ar Bed‘ nannten, was soviel wie ‚Anfang‘ oder ‚Spitze‘ oder ‚Haupt der Welt‘ bedeutet.

Ich erinnere ein gefühltes Dutzend französischer Filme, in denen es die größte Sehnsucht der meist in Paris ansässigen Protagonisten ist, das Meer zu erleben, natürlich nicht das Mittelmeer, sondern den Altantischen Ozean. Allerdings geben sie sich häufig mit der normannischen Küste zufrieden, aber reicher und vielfältiger in ihrer Pflanzen- und Tierwelt, im Wechsel der Gezeiten, im Ausmaß von Zerklüftung und Glätte, von Rauhheit und Sanftheit ist die bretonische Küste in ihren Krümmungen und Buchten, in ihrem verspielten Trotz gegen das Meer. Nicht zu reden von dem keltischen Volk, das sich hier niederließ und mit seiner Sprache und Tradition die kulturelle Landschaft prägte.

Aber wo sind die Bretonen, ohne die ich diese Vielfalt nur stümperhaft und oberflächlich wahrnehmen kann? Wieder einmal wird mir schmerzlich die (Selbst)Täuschung bewusst, die ein Tourismus mit sich bringt, der Welterfahrung in Hochgeschwindigkeit vorgaukelt und geflissentlich verschweigt, dass es dafür einer Art des Reisens bedarf, die heute kaum noch jemand ins Auge fasst, weil sie Entbehrungen abverlangt, weil sie strapaziös und mühsam ist, aufregend und unsicher und erst, wenn die Rückkehr gelingt, dann allerdings in einem Maße erfüllend und das weitere Leben prägend sein kann wie nichts sonst in der eigenen Umgebung.

Diesmal habe ich großes Glück, weil mir in Saint-Thégonnec ein Regal ein ins Deutsche übersetztes Buch „Bretonische Erzählungen“ des Schriftstellers Pierre-Jakez Hélias in die Hände spielt. 1914 in Pouldreuzic geboren, einem kleinen, 20 Kilometer von Quimper entfernten Ort nahe der Atlantikküste, wird Hélias zunächst Hochschullehrer für Französisch, Latein und Griechisch. Nebenher entdeckt er mit Gedichten und Erzählungen seine Sprachvermögen und sammelt fast 30 Jahre lang die bis dahin meist mündlich weitergegebenen Erinnerungen und Geschichten der einfachen Bevölkerung. Über die Bretagne und Frankreich hinaus bekannt wird er mit dem 1975 erschienenen und in 18 Sprachen übersetzten autobiografischen Roman „Das Traumpferd“, den Claude Chabrol 1980 verfilmt.

Die „Bretonischen Geschichten“ sind poetische Perlen von außergewöhnlicher Sprachmacht und Strahlkraft, die Elke Krämer mit feinem Gespür und großer Kunstfertigkeit so übertragen hat, dass ich immer wieder überrascht und ergriffen von den gefundenen Bildern bin. Sie zeigen mit Lust und Geschick eine Wesensart, die, habe ich den Eindruck, in ihrer Verwurzelung und Unverwüstbarkeit, in ihrer Klugheit und List und Ausdauer jedem Gespinst aus Gier und Macht, das sich über sie spannt, widerstehen kann, überleben wird  und auch noch da ist, wenn die künstlichen Konstruktionen unserer Rastlosigkeit längst zerfallen sind.

Und nochmals habe ich Glück, als ich heute unweit der Hinkelsteine bei Camaret-Sur-Mer auf die Ruine „Manoir du Boultous“ stoße, das 1944 zerbombte Wohnhaus des vier Jahre zuvor in Brest verstorbenen französischen Dichters, Symbolisten und Wegbereiters der Surrealisten Saint-Paul-Roux, den Stéphane Mallarmé seinen Sohn nannte und der mit Maurice Maeterlinck, Paul Gauguin, Guillaume Apollinaire und Paul Verlaine befreundet war. „Saint-Pol-Roux gebührt unter den Lebenden der erste Platz, und mit vollem Recht kann er unter ihnen als der einzige authentische Vorläufer der sogenannten Modernen Bewegung geehrt werden. Es wäre leicht, das zu zeigen, was der Kubismus, der Futurismus, der Surrealismus ihm verdanken“, schrieb seinerzeit André Breton. Sich in dieser Weise an einem Ort der Welt niederzulassen, ist ein starkes Zeichen, das kaum noch der Deutung bedarf.

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