HARVEST 1
„Idealerweise kann lumbung ein Modell sein, das viele Menschen besitzen, anpassen, entwickeln und benutzen können“, heißt es im „Handbuch“ der documenta fifteen. „Die Art, wie Zellorganismen oder rhizomartige Strukturen sich selbst aufspalten, um klein zu bleiben, ist ein nützliches Modell. Ein großes Format bringt unabsehbare Folgen mit sich.“ Wieso bestimmen dann Großformate und hierarchische Strukturen unser Leben? Hat sich das einfach so ergeben oder fühlen wir uns in ihnen besser aufgehoben? Täuschen wir uns? Selbst?
„Der schwierigste Aspekt bei der Erzeugung von lumbung ist der Aufbau von Vertrauen und Affinitäten.“ Das klingt gut, aber ist es auch gut möglich? Meiner Erfahrung nach spielt Intelligenz nicht die entscheidende Rolle, um Vertrauen, Gemeinsinn und Toleranz zu entwickeln, ebensowenig wie KI. Menschliche und künstliche Intelligenz können aber hilfreich sein. Momentan sind sie es kaum. Bis wir herausfinden, woran das liegt, sollten wir uns besser nicht allzu viel vormachen.
„Das, was wir (hier) machen, ist eine documenta-Version von lumbung“, erklären ruangrupa und das Künstlerische Team der documenta fifteen und weisen darauf hin, dass „eine der größten Herausforderungen darin besteht, ob sich die entstandenen Beziehungen aufrechterhalten lassen, ohne der alten Logik der Ressourcen zu folgen“, die diese Beziehungen regelmäßig den eigenen Interessen unterordnet und sie zurechtbiegt, bis sie „domestiziert, systematisiert und institutionalisiert sind“. Das wirft die nächsten Fragen auf.
Können überhaupt Beziehungen „ohne die Illusion oder die Verheißung von Kapital (in finanzieller, sozialer, kultureller oder sonstiger Gestalt) zustande kommen“? Kann lumbung „unter Verwendung eines nicht-transaktionalen Ansatzes Bestand haben“?
‚Transaktional‘ ist ein Begriff des Onlinemarketings. Transaktional wird Suchanfrage im Internet genannt, bei der die Suchenden nicht nur schauen wollen, sondern schon eine Kaufabsicht hegen. Dank zuvor gesammelter Informationen über diese Personen ist beispielsweise Google in der Lage, eine Kaufabsicht zu erkennen. Dann wird dazu passende Werbung geschaltet oder es werden alternative Lösungen angeboten. Verkauft/gekauft soll unbedingt werden.
Harvest nennen die lumbung-Leute, was sich „aus ihrer eigenen Perspektive, Herangehensweise und künstlerischen Praxis“ während der documenta fifteen ergibt. „Harvests können die Form eines Notizzettels, einer geschriebenen Geschichte, einer Zeichnung, eines Films, eines Tondokuments oder eines Meme annehmen“. Selbstredend ist nicht jeder Notizzettel und jedes Meme, wie ein kreativer Inhalt genannt wird, der sich vorwiegend im Internet verbreitet. Wahrscheinlich die wenigsten Zettel, Filme, Memes sind Ernte, auch die nicht mit ganz vielen ‚Likes‘.
Auf Schwierigkeiten und Konflikte, mit denen wir es zu tun haben, geht das transaktionale Geschäftsmodell nicht nur nicht ein, sondern verstärkt sie. Ernte würde ich das nicht nennen, auch nicht diesen Blogeintrag in sieben Teilen, der von meinen Entdeckungen in Kassel erzählt und zeigt, wie mir in diesen Tagen zumute war und auf welche Gedanken ich kam.
Mein Harvest ist ein Kunstbegriff, der eigenartigerweise wieder dem in der griechischen Antike nahekommt. Dort entstand – zur Unterscheidung von den ‚Artes mechanicae‘, den ‚praktischen Künsten‘ – der Kanon der ‚sieben freien Künste‘. Seine Basis bildeten Grammatik, Rhetorik und Dialektik, auf denen die vier Wissenschaften Arithmetik, Geometrie, Musik und Astronomie fußten. Das war der kulturelle Kern der damaligen Gesellschaft, aus dem heraus Wissen geordnet und erweitert, Werte geprägt, Normen geschaffen und Ziele definiert wurden.
Ich halte die sieben freien Künste für die erste brauchbare Struktur, um sich in der Welt nicht nur zurechtfinden und einrichten, sondern um Zukunft zu erlangen, indem ich ihr einen Gutteil Unabsehbares und Schicksalhaftes nehme. Das ist wahrscheinlich aussichtsreicher, als darauf los zu leben und zu wirtschaften. Dass das auch damals schon nur Anfang sein konnte, ist mir klar.
Einmal traute man nur Männern diese Kernkompetenz zu und auch nur solchen, die sich um Broterwerb und andere Alltäglichkeiten nicht (mehr) kümmern mussten. Zum anderen musste dieser Kanon sich mit der Zeit immer weiter ausdifferenzieren. Je umfangreicher das Wissen wurde, desto unübersichtlicher wurde es und die Spezialisten übernahmen das Kommando. Generalisten, wenn nicht gerade Genies, waren im rasanten Vorwärtsgang von Wissenschaft und Technik bald nur noch belächelte Wunderlinge.
Auch die grandiose Einsicht eines Alexander von Humboldt, dass in der Natur alles mit allem zusammenhängt, hielt den allgemeinen Trend nicht auf. Erst in den letzten Jahrzehnten scheinen wir … doch nein, das wäre eine neue Wunschvorstellung in der ununterbrochenen Reihe von Fiktionen, mit denen wir uns durch die Zeit treiben … zur Vernunft zu kommen. Also nicht. Aber die verzweifelte Ausschau, die wir, krisengeschüttelt, halten, macht den Blick auf einmal wieder frei für unser wertvollstes Kapital, die Kreativität.
Ob die Ernte ausreicht, Großformatiges wieder ausreichend klein und Hierarchen wieder rhizom zu machen? Doch auf noch keiner Kunstschau zuvor habe ich die Idee der ‚Sozialen Plastik‘ von Josef Beuys so deutlich als notwendigen Antrieb identifiziert und in den Mittelpunkt gerückt erlebt. Gleich am ersten Tag konnte ich Fäden aufnehmen, die schon die Kunstschauen vor fünf und zehn Jahren ausgelegt haben.
Auf der dOCUMENTA (13) im Jahr 2012 fiel mir im Naturkundemuseum „Commoning in Kassel“ der Künstlergruppe AND AND AND auf. Gemeinsam mit dem Fachbereich Ökologische Agrarwissenschaften der Universität Kassel initiiert, schien mir das Projekt damals seiner Zeit noch weit voraus. Es „begreift die Erde mit allen Systemen und Lebewesen sowie die menschliche Kultur, Kreativität und Aktivität als gemeinsam zu erhaltendes und zu nutzendes Gut.“ Der Teegarten vor dem Ottoneum wurde ein Ort, an dem über Biodiversität, Bodenfruchtbarkeit und Verantwortung für Gemeingüter gesprochen wurde: ein Kunstwerk.
„Besser die Gesamtheit dessen begreifen, was getan wurde und was zu tun bleibt, als der alten Welt des Spektakels und der Erinnerungen weitere Ruinen hinzuzufügen“, hieß es 2017 im „Daybook“ zur documenta 14. Sogar das Wort ‚Kollektiv‘ lugte, noch adjektivisch, aus der Absicht hervor, „eng an dem zu bleiben, was das Wesentliche jeder künstlerischen Praxis ist und was im Grunde das Leben ausmacht, das wir kollektiv und bewusst teilen können“.
In konzertierter Aktion lenkten einige Akteure Diskussionen zur Bedeutung von Kunst und Kultur für Individuum und Gesellschaft auf Pfade, die nicht nur dem westlichen Kunstmarkt nicht gefielen. Das „bewusst teilen können“ belegten sie mit dem kategorischen Imperativ und reklamierten die Deutungshoheit für Begriffe wie ‚Verantwortung‘, ‚Gemeinwohl‘ und ‚Nachhaltigkeit‘ für sich. Allen Ernstes waren sie Willens, sie nicht wieder herzugeben. Zu teilen schon! In dieser Absicht beeindruckte zum Beispiel der Mexikaner Guillermo Galindo mit der Installation „Fluchtzieleuropahavarieschallkörper“.
Entlang der mexikanisch-amerikanischen Grenze, „eine der am stärksten militarisierten Regionen Nordamerikas“, sammelte er von Flüchtlingen, Migrant:innen und Grenzschützer:innen zurückgelassene Objekte und verwandelte sie in Instrumente. „Mesoamerikanische Kulturen gehen davon aus, dass unsere persönlichen Besitztümer und die Geräusche, die sie machen, auf vielfältige Art mit unserer Reise auf diesem Planeten verbunden sind.“ 2017 stellte der Mexikaner mit diesem Kunstwerk das Flüchtlingsthema, wohin es längst gehört: in den globalen Kontext.
Lässig versprechen uns gewählte und selbsternannte Anführer mit beflissener Unterstützung der Medien hemmungslos Sicherheit und Wohlstand und spielen den menschengemachten Klimawandel, grassierenden Ressourcenschwund bei wachsender Weltbevölkerung, Wirtschafts- und Finanzkrisen, Umweltschäden, Hungersnöte und Flüchtlingsströme zu lokalen Pannen herunter. Mit etwas mehr Einsatz und Geduld, so ihr gern gehörtes Narrativ, lässt sich das alles mit ungebremstem Wachstum und forciertem technischen Fortschritt wieder heilen, doch diese Geschichte ist mit den Krisen und Katastrophen, die seit einigen Jahren Überhand nehmen auserzählt.
„Wir wollen als Kollektiv in Erinnerung bleiben, das kompromisslos Ungerechtigkeiten anzeigt und bekämpft“, fasst Sri Maryanto, ein Künstler im Kollektiv von Taring Padi, zusammen. “Durch das erweiterte Netzwerk und die Zusammenarbeit können wir mehr Aufmerksamkeit gewinnen. Die documenta hat uns gezeigt, wie wichtig es ist, miteinander, voneinander und gemeinsam zu lernen, um eine bessere Welt zu verwirklichen. Jetzt ist die Gesellschaft am Zug“. Die Ich-Darsteller verlieren an Aufmerksamkeit. Die Kreativen haben angefangen, das globale Geschehen neu zu formatieren. Sie entdecken ihr besonderes Potential als existenzielle Ressource, die für unseren Fortbestand ebenso wichtig wird wie Wissenschaft und Forschung.
Auf dem Weg zum Bahnhof will ich dem Gewimmel am Friedrichsplatz gar nicht ausweichen. Bei einem prickelnden Aperol-Spritz vor dem Restaurant „Alex“ beruhigt es sogar. Der Blick findet hindurch zum Banner „Volksdemokratie“ schräg vis-à-vis an der Fassade des Kaufhauses C & A. Unverkennbar Taring Padi. Die Gestaltung ähnelt den biblischen Bildergeschichten, die die abendländischen Kirchenfenster erzählen. Später werde ich lesen, dass es sich um eine Replik handelt. Das Original, entstanden nach dem Sturz des Diktators Suharto im Jahr 1998, haben islamische Fundamentalisten verbrannt. Das Bild verklammert mir – was für kein Zufall! – die Tage in Kassel transportabel.
Harvest macht mich nicht reich. Das ist das Adjektiv, mit dem wir von Anbeginn Naturgewalten für unsere Zwecke bändigen, Schlachten schlagen, Siege feiern, Niederlagen verdrängen. Harvest hält uns am Leben.