„documenta fifteen“ 5

STILLE KRÄFTE

In der Regierungszeit des Landgrafen Karl von Hessen (1654 bis 1730) entstand um 1700 der Staatspark Karlsaue als Barockgarten mit Wasserbassins und fächerförmig angelegten Kanälen. Ende des 18. Jahrhunderts wurde er zum Landschaftsgarten im englischen Stil umgestaltet. Allerdings erschließen die barocken Sicht‐ und Bedeutungsachsen den Lustwandelnden das grüne Areal an der Fulda bis heute.

Hinter der Orangerie, einst hochherrschaftliche Sommerresidenz, präsentiert das ostafrikanische Kollektiv The Nest auf ernüchternd dürrer Wiese die Multimedia-Installation „Return to Sender“. Ein auffälliger Quader mit Wänden aus Altkleiderballen, einer lichtdichten Decke und einem einfachen Bretterfußboden ist sowohl architektonische Intervention als auch Mittelpunkt einer Auseinandersetzung mit dem Thema Importmüll. The Nest „erkundet die Zusammenhänge zwischen Urbanität und Schwarzem Bewusstsein“ und beschämt meinen Blick auf die offensichtliche Abwertung eines ganzen Kontinents durch den globalen Norden.

Schonungslos wird mir beigebracht, dass Afrikaner:innen einen mir sehr ähnlichen Sinn für Geschmack und Qualität haben. Wer hätte das gedacht, denke ich. Dann denke ich über einen offenbar unterschwellig weiter schwelenden Rassismus nach. Wie manipuliert muss ich sein, mir einzubilden, mit dem Transfer meiner abgelegten Klamotten in den globalen Süden irgend jemandem etwas Gutes zu tun?

Das Projekt „Zurück zum Absender“ hat all den Krempel, in dem Klamotten noch das Harmloseste sind, wieder dorthin geschafft, wohin er gehört. Zu mir! Nötig wäre, denke ich, dass das auch mit den bösartigeren HinGaben geschieht. Vielleicht könnten daraus ja doch noch mal die bitter notwendigen Handlungsanstöße in unserem Umgang mit dem ‚Rest der Welt‘ werden? Wie gut täte uns der Reimport von Industrieabfällen und Produkten, die wir lieber nicht recyceln, sondern kostengünstig in Korruption und Machtlosigkeit verschwinden lassen. Willkommen im Entwicklungshilfe-Land.

Im Innern des Mülltempels gibt ein Video „aus der Sicht verschiedener Beteiligter und Blickwinkel“ Einblick in makroökonomische Entscheidungen des globalen Nordens, aus denen die tägliche Realität in den überfüllten Metropolen Afrikas folgt. „Man blickt durch die Augen der Trauer, wenn man die absichtliche Zerstörung ehrgeiziger afrikanischer Herstellerkulturen und das Sterben afrikanischer Träume betrachtet – all dies, damit der Handel mit Second-hand-Kleidung floriert.“

Eine ganz andere Perspektive erschließt der „Komposthaufen“ der argentinischen Gruppe La Intermundial Holobiente. Die bildende Künstlerin Claudia Fontes, die Philosophin Paula Fleisner und der Schriftsteller Pablo Martín Ruiz öffnen den Blick auf ein nicht-extraktivisches Wirtschaften, wobei wildlebende Pflanzen und Tiere der Natur auf eine Weise entnommen werden, die ihr komplexes Zusammenwirken erhält.

Dafür verwendet die Gruppe den 1991 von der US-amerikanischen Biologin Lynn Margulis eingeführten Begriff „Holobient“ für „kollektive und mehr-als-menschliche Wesenheiten“ und „reale und imaginäre sowie nicht-binäre Bündnisse“. Dafür hat sie tief im Süden der Karlsaue ein Habitat errichtet, das von „The Book of the Ten Thousand Things“ inspiriert ist.

Dieses von 14 Künstlern und Schriftstellerinnen verfasste „Buch der zehntausend Dinge“ bezieht sich seinerseits auf den 1955 erschienenen Roman „Die zehntausend Dinge“ der niederländischen Schriftstellerin Maria Dermoût. Darin geht es um einen Wandteppich mit einer Familiengeschichte auf einer der indonesischen Molukken-Inseln, wo „hundert mal hundert Dinge, nebeneinander, lose, einander berührend, hier und da ineinander übergehend – ohne jede feste Verbindung, und gleichzeitig für immer miteinander“ zur Substanz des Lebens „verflochten sind“, eine Wesenheit, der auch der indische Schriftsteller Amitav Ghosh in seinem 2020 erschienenen Roman „Der Fluch der Muskatnuss“ nachspürt.

Maria Dermoût, 1888 auf Java geboren, lebte als Erwachsene eine Zeit lang in der indonesischen Provinz Maluku. Dort ist die Protagonistin ihres Romans, die über 50jährige Felicias, beheimatet. Als „letzter Spross einer alten Familie holländischer Plantagenbesitzer“ hat sie sich auf einer Insel mit eben diesen zehntausend Dinge und ihren Geschichten ein Refugium erschaffen, in dem sie einmal im Monat den Besuch ihres Sohnes, „eines Kolonialsoldaten, der auf einer Nachbarinsel umgebracht worden ist“ und die Geister anderer Ermordeter erwartet.

Weit und lange entfernt von ihren europäischen Vorfahren, taumelt sie dort, inmitten von „stillen Kräften“, die tiefer und weiter auf Menschen einwirken, als ein allein auf Vernunft gegründetes Wissen, „in einem späten Stadium des Kolonialismus dem Ende einer jahrhundertealten Epoche“ entgegen.

„Ein Großteil der Menschen, wenn nicht der allergrößte Teil“, schreibt Ghosh, „lebt heute wie die Kolonisatoren von einst. Sie betrachten die Erde, als sei sie eine leblose Entität, die in erster Linie dazu da ist, mittels Technik und Wissenschaft ausgebeutet zu werden und Profit aus ihr zu schlagen.“ Doch kommen die „stillen und verborgenen Kräfte“ immer deutlicher „in Klimaereignissen von nie da gewesener und unheimlicher Gewalt“ zutage und Stimmen gewinnen an Resonanz, „die angesichts gnadenloser apokalyptischer Gewalt darauf beharren, dass Nichtmenschen sprechen können, es tun und müssen.“

Um das „Buch der zehntausend Dinge“ herum erweitert ein FreiRaum für Bilder und Aktionen meine Gedanken von lumbung zu einer schönen Vision, mit der ich weiter durch den Park zum Gewächshaus marschiere.

Dort hat die Organisation der Künstler:innen Más Arte Más Acción, kurz MAMA, eine Klanglandschaft eingerichtet und von Borkenkäfern befallene Baumstämme aus der Umgebung von Kassel aufgeschichtet. Aus solchen Stämmen gefertigte Holzhocker sind, verteilt über Park und Stadt, zu kleinen Orten der Besinnung gruppiert worden, die zugleich auf „Choco Base“ hinweisen. So heißt ein Holzhaus in der Nähe von Nuquí, einer Gemeinde im tropischen Regenwald von Kolumbien, in dem das Kollektiv seit zehn Jahren arbeitet.

Im kolumbianischen Pazifik gibt es den Mangrovenbaum – und das Mangrovenuniversum. Der Mangrovenbaum wächst im Brackwasser, das den Ozean mit dem Land verbindet – das Mangrovenuniversum ist der Wald als komplexes Ökosystem aus Bäumen, Fauna und Wasser, das sich nur selbst erhält, wenn Menschen es nicht aus dem Gleichgewicht bringen. Das aber droht in einer Region, die von bewaffneten Auseinandersetzungen, Drogenhandel, Ausgrenzung, Ausbeutung und Armut gezeichnet ist.

MAMA, inzwischen weltweit vernetzt, organisiert in diesem komplizierten Umfeld individuelle und soziale Projekte mit Indigenen und afroamerikanischen Gruppen und bemüht sich um den Erhalt kultureller Traditionen. Die in dieser Zusammenarbeit entstandenen Fragen hat die Gruppe über die Jahre dokumentiert und archiviert und stellt sie in einem „MAMA Doc Space“ neben der Orangerie mit Filmen, Performances und offenen Gesprächsrunden dar.

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