LUMBUNG
Wenn es bedrohlich wird, sind heute große Worte wie ‚Zeitenwende‘, ‚Klimapolitik‘, ‚Wertegemeinschaft‘ oder ‚Perspektivwechsel‘ rasch zur Hand. Ebenso rasch entpuppen sie sich als folgenlose Reizworte, weil notwendige Veränderungen unserer Lebensweise und gemeinsames Handeln weiterhin ausbleiben. Gewiss gibt es überall Willige und Mutige, doch überall sind sie Minderheiten. Tätig wird die Mehrzahl erst, wenn es um sie selbst geht, um eigene Interessen, um Existenzielles, um Sein oder Nichtsein.
Die Interessen derer, die für die documenta fifteen verantwortlich sind, erlebe ich vier Tage lang. An den (Kunst)Marktmächten vorbei haben sie 2022 dem globalen Süden für 100 Tage das traditionelle Terrain überlassen und bereits im Februar 2019 ruangrupa aus dem indonesischen Jakarta die künstlerische Leitung der weltweit bedeutenden Kunstschau übertragen.
„Wir ernennen ruangrupa, weil sie nachweislich in der Lage sind, vielfältige Zielgruppen – auch solche, die über ein reines Kunstpublikum hinausgehen – anzusprechen und lokales Engagement und Beteiligung herauszufordern“, begründete eine Findungskommission ihre einstimmige Wahl. „In einer Zeit, in der innovative Kraft insbesondere von unabhängigen, gemeinschaftlich agierenden Organisationen ausgeht, erscheint es folgerichtig, diesem kollektiven Ansatz mit der documenta eine Plattform zu bieten. Wir sind gespannt, wie ruangrupa ein konkretes Projekt für und aus Kassel heraus entwickeln wird.“
ruangrupa besteht seit dem Jahr 2000. Übersetzt bedeutet der Name soviel wie ‚Raum der Kunst‘ oder ‚Raum-Form‘. lumbung heißt das ‚Zauberwort‘, aus dem heraus die Gruppe die Ausstellung entwickelt hat. Es ist das volkssprachliche Wort für eine Reisscheune, in der eine indonesische Dorfgemeinschaft ihre Ernten aufbewahrt, verwaltet und verteilt. ruangrupa macht es zum Inbegriff für die Erfahrung, dass niemand allein für sich gut und zufrieden leben kann.
Ein zweites ‚Zauberwort‘ heißt Kollektiv. In der Kulturgeschichte der nördlichen Hemisphäre ist das ein noch ungewohnter Begriff. Während der Anglizismus ‚Team‘ eine vor allem formale Zweckgemeinschaft bezeichnet, ist das vom Lateinischen ‚colligere‘ abgeleitete ‚Kollektiv‘ eine Verknüpfung, die tief ins Persönliche reicht und mehr hervorbringen will, als bloße Aufgabenerfüllung. Häufig kommt es zu einer nachhaltigen Kooperation. Jean Paul Sartre (er)findet dafür in seinem philosophischen Hauptwerk „Kritik der dialektischen Vernunft. I. Band. Theorie der gesellschaftlichen Praxis“ den Begriff ‚gemeinsames Individuum‘. Das kann etwas erschaffen, was über die Summe der individuellen Möglichkeiten seiner Mitglieder hinausreicht.
Das zeigt ruangrupa in Kassel. 14 ‚lumbung-member‘ (das sind Kollektive, Organisationen und Institutionen, die die Idee und Praxis von lumbung entwickeln) und 53 lumbung-Künster:innen (Gruppen und Einzelne, die lumbung-Werte praktizieren) sind im Stadtraum vertreten. Bis zur und während der Ausstellung teilen sie sich Ressourcen und zeigen nicht nur Fertiges, sondern werden gleichzeitig vor Ort kreativ.
Beide, also lumbung-member und lumbung-Künstler:innen, verbindet majelis akbar (das sind Zusammenkünfte, wo Angelegenheiten der Gemeinschaft besprochen werden). „Manchmal drehen sie sich im Kreis, und es werden keine Entscheidungen getroffen. Plötzlich erfolgt eine Entscheidung aus heiterem Himmel. Manchmal gibt es keine Entscheidung, doch man erlebt ein sehr gutes nongkrong oder Abendessen“.
Das indonesische Wort nongkrong bedeutet ‚sich treffen‘ und ‚abhängen‘ – laxes Relaxen und Verbundensein in Einem! „Bei nongkrong geht es nicht um Leistung oder Bestätigung. Es geht darum, Zeit miteinander zu verbringen und sich gegenseitig die eigenen Geschichten zu erzählen.“ Das heißt nichts anderes, als anderen ohne Druck und Stress die eigene Perspektive für eine möglichst nachhaltige Gemeinsamkeit zu vermitteln. So eine Ebene des Umgangs miteinander scheint der globale Norden system@isch zu vernachlässigen.
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