“59. Biennale di Venezia” 6

DIVERSITÄT

Am dritten Tag sehe ich Länderbeiträge im Stadtgebiet an, beginne allerdings mit einer Exkursion zu Banksy, den niemand eingeladen hat. An Kunstkennern wird das nicht liegen, wohl eher am Kunstmarkt, den der Außenseiter mit scharfsinnigen Provokationen immer wieder attackiert und bloßstellt, einen Markt, auf dem es nicht anders zugeht, als auf Güter- und Geldmärkten. Umsätze und Renditen bestimmen das Geschehen und keine Inhalte und Lebensnotwendigkeiten.

Mit dem Vaporetto fahre ich auf dem Canal Grande bis zur Station Ca‘ Rezzonico und laufe in nordwestlicher Richtung über den Campo Santa Margherita bis zum Campo San Pantalon. Dort hat Banksy auf der südseitigen Außenmauer eines venezianischen Hauses in den Tagen der Eröffnung der Biennale ein Graffito aufgebracht. Das Gebäude steht leer und zum Verkauf. Neben einer Wassertür zum Rio de Ca‘ Foscari steht ein Kind in einer Schwimmweste. In der rechten hochgereckten Hand hält es eine Fackel, die Seenot signalisiert. Eine absehbare Aussicht für die ganze Stadt.

Den Weg zurück und weiter, an der Anlegestelle vorbei, komme ich über die Brücke dell‘ Accademia in den Stadtteil San Marco. Im Palazzo Franchetti zeigt sich Portugal. Pedro Neves Marques verknüpft in einer Filmtrilogie „Vampires in Space“ unser grenzwertiges Leben mit den Aussichten unserer Spezies.

Mehrere Jahrhunderte voraus, als die Erde aufhört, ein Lebensraum zu sein, suchen Vampir:innen inmitten kosmischer Aussichtslosigkeit einen Weg, die eigene Unsterblichkeit zu bewahren. In einem Raumschiff fliegen sie einem fernen, erdähnlichen Planeten entgegen. Zwischen den Filmszenen thematisieren im Raum aufgestellte Module, die gläsernen Särgen ähneln, Vergänglichkeit, Verwundbarkeit und Endlichkeit im Ewigen. Mit dem letzten Leben auf Erden transportieren die Vampir:innen auch Zweifel und Selbstabgrenzungen  zwischen zwei Welten und drei Leben. Ganz originell ist das, am Ende aber auch nur wieder eine weitere Sience-Fiction-Spielerei.

„Ungekämmt, unvorhergesehen, ungezwungen“ heißt eine Begleitausstellung zur Biennale im Palazzo Pisani, in dem Venedigs Musikhochschule, das Conservatorio Benedetto Marcello, untergebracht ist. Hier hat die Kunsthistorikerin Ziba Ardalan eine Reihe von Arbeiten verschiedener Künstler:innen zusammengestellt und über das Gebäude verteilt. Übergreifendes Thema ist die Entropie, zunächst ein Begriff, der das Maß der Unordnung in einem physikalischen System beschreibt. Konkret steigt sie mit jedem Prozess, der darin abläuft und mit jeder Zufuhr von Wärme oder Materie von außen. In der Thermodynamik folgt daraus, dass ohne Energie- oder Materieaustausch in einem abgeschlossenen System die Entropie nie abnehmen, nur höchstens gleich bleiben oder zunehmen kann. Die maximal mögliche Entropie ist erreicht, wenn alle im System ablaufenden Prozesse zum Stillstand kommen. Von da an ist es in einem stabilen Gleichgewicht.

Würde diese Gesetzmäßigkeit auf die Geschichte der Menschheit und ihre Eingriffe in die Umwelt angewendet, ergäbe sich, dass ihre Entropie noch nie so groß gewesen ist, wie in der Gegenwart. Mit der Plünderung der natürlichen Ressourcen steuern wir demnach auf einen Punkt zu, von dem aus das Gleichgewicht, das die Umwelt braucht, um einigermaßen sichere Lebensbedingungen zu erhalten, verloren geht. Das heißt nichts anderes als Lebensgefahr! Auf eindrucksvolle Weise zeigen das vermeintlich harmlose Bohrkerne, die der Schweizer Julian Charriére (1987) samt den durchbohrten Findlingen, denen sie entstammen von weither in den Innenhof der Hochschule transportiert hat. Sie symbolisieren die Gewinnung natürlicher Ressourcen und ihren unumkehrbaren Verbrauch.

Uganda nimmt zum ersten Mal an der Biennale teil. Die mühsame Suche nach dem Palazzo Palumbo überrascht mich nach der Nepal-Erfahrung von gestern kaum noch. Für das westafrikanische Land thematisieren Acaye Kerunen (1981) und Collin Sekajugo (1980), die in Kampala leben, mit „Radiance: They dream in Time“ ihre Lebenswelten, ihre Geschichte und das koloniale Erbe. Der Biennale-Jury ist „Ausstrahlung: Sie träumen in der Zeit“ eine „besondere Erwähnung“ wert.

Acaye Kerunen schuf, unterstützt von Kunsthandwerkerinnen rund um den Viktoriasee skulpturale Installationen aus Bananenfasern, Bast und anderen Materialien in verschiedenen Näh-, Web-, Stick- und Knüpftechniken. „Ihre skulpturalen Installationen vereinen zeitgenössische Ästhetik mit ugandischen Bildtraditionen und stellen die politische und soziale Geschichte des Landes in den Mittelpunkt ihrer Arbeit“, erklärt der Präsident  der renommierten New Yorker Pace Gallery ihre Kunst.

Gleich auf den ersten Blick erscheint sie mir als kongeniale Verknüpfung mit der Malerei des Multimedia-Künstlers Collin Sekajugo. Er gewinnt Themen und Ideen aus dem Kunstschaffen ost- und südafrikanischer Länder, die er auf mehreren Reisen kennenlernte. Um seine Erfahrungen zu spiegeln, verwendet er recycelte Plastik, Jeansreste oder Altpapier. Collagen, mit denen sich die Ugander:innen identifizieren, erzählen Geschichten von Multiethnizität und Vorurteilen und erfinden Metaphern für das Verständnis von Komplexität in ihrer Lebenswirklichkeit. Maskierte Gesichter oder Körperteile seiner Figuren zeigen die toxische Wechselwirkung zwischen Identität und Diskriminierung. Sind wir unfähig, besser zusammenzuleben?

Es ist nicht mehr weit bis zum Marcusplatz, doch weit entfernt vom Schlendern, das ihm zu seinem Namen verhalf, wie ich von Elke Heidenreich aus ihren Reisegeschichten erfahre. „Schon vor Jahrhunderten antworteten stolze italienische Väter auf die Frage , was denn ihr Sohn mache: ‚È in piazza!‘ Er ist Müßiggänger, er schlendert auf dem Platz herum, und piazza, das ist immer San Marco, alle anderen Plätze heißen campo.“ Dort bespielt im Dogenpalast Anselm Kiefer, parallel zur Biennale die Sala dello Scrutinio, den Saal, in dem in der alten Seerepublik Venedig die Stimmzettel ausgezählt wurden, mit einem Welttheater.

Ein Zitat des Künstlers eröffnet mein Rumpelstilz-Essay: „Die Welt hebt an mit einem Tun. Und mit einem Tun hebt auch das an, was wir Ich nennen.“ Auf eine Warteschlange ist dieses Ich gefasst, doch nicht auf ihre Länge. Nach der Erkundung des umständlichen Prozedere entscheide ich, schweren Herzens, mich nicht einzureihen. Zu viel habe ich heute noch vor, und der Mittag ist schon hoch über mir.  

Ich meide den Touristentrott in Richtung der Rialto-Brücke und finde leicht Gassen, durch die ich parallel zum Canal Grande ungebremst hinauf zum Rio de la Guerra finde. Dort hat sich Bolivien einquartiert.

Auf nur zehn Quadratmetern hält das Kollektiv Warmichacha die dichte Schau „Wara Wara Jawira“ bereit. Der Name der Gruppe bezieht sich auf die Dualität von Frau (warmi) und Mann (chacha) und auf die von den Indigenen verehrte Göttin Pachamama, die Erdmutter und Vermittlerin zwischen Ober- und Unterwelt. „Alapacha“ benennt den Himmel und den unendlichen Kosmos, „Akapacha“ die Erde, „Mankapacha“ einen unterirdischen Kosmos. Die multimediale Installation will vermitteln, dass es keinen Unterschied zwischen Lebenden und denen gibt, die schon im Jenseits sind. Ich soll diese Welten nicht nur durchreisen, sondern meine eigenen Gedanken und Gefühle damit verknüpfen, ein deutlicher Bezug zum Biennale-Motto „The Milk of Dreams“.  

Eine weitere Begleitausstellung zur Biennale finde ich im Palazzo Mora, in dem das Europäische Kulturzentrum untergebracht ist. Es zeigt die sechste Ausgabe von „Personal Structures – Reflections“.

Zum Beispiel in „Landscape“ von Ariela Wertheimer geht es um die Idee der Spiegelung von Bildern, die aus reflektierenden Oberflächen entstehen oder durch Meditation aus Gedanken, Ideen und Meinungen. Unter den Beiträgen von fast 200 Künstler:innen ist auch „The Days Were Snowy But Warm“ von Oh Myung Hee (1956).

Die Mitte des dreiteiligen Bildes zeigt auf einem Foto eine typisch koreanische Frau. Auf der linken Bildseite ist Hye-seok Na zu sehen, eine koreanische Frau in den 1930er Jahren, rechts Marilyn Monroe. Alle drei manifestieren den Begriff von Weiblichkeit für Oh Myung Hee. Die Frau in einem Hanbok in der Mitte, der traditionellen koreanischen Kleidung, ist das Frauenbild, das Koreaner:innen früher von Müttern hatten. Hye-seok Na war die erste Malerin und Schriftstellerin des modernen Koreas, die mit alten Bräuchen und Systemen brach. Als junges Mädchen las sie Marilyn Monroes Autobiografie und entdeckte, dass sie die verborgenen Emotionen und Gefühle der Schauspielerin teilte. Marilyn Monroe besuchte Korea gegen Ende des Koreakrieges, um die Moral der amerikanischen Truppen zu stärken und sagte: „17000 Soldaten schrien vor mir. Ich stand vor ihnen und lächelte. Es fing an zu schneien, aber mir war warm, als stünde ich in der strahlenden Sonne … Ich fühlte mich zu Hause.“

Lack und Perlmutt, die die Künstlerin als dekorative Elemente einsetzt, sind von Kindheitserlebnissen inspiriert. Traditionell wurden in Korea Lack und Perlmutt auf Gegenstände in einem Boudoir aufgetragen, einem exklusiven Raum für Frauen.

Für die Niederlande steht während der Biennale der Innenraum der Kirche Chiesa dell’Abbazia della Misericordiaden zur Verfügung. Ihn füllt die queere, nicht-binäre Künstlerin Melanie Bonajo mit der Installation „When the body says Yes“. „Hauthunger“ nennt die Künstlerin die Sehnsucht nach körperlicher Nähe.

Auf einer Kinoleinwand läuft ununterbrochen ein Film, in dem sich Menschen, mal bekleidet und mal entblößt, behutsam berühren, erfühlen, erkunden, ohne sich in individueller Hingabe zu vereinzeln. Sie wollen in Gänze zusammenbleiben. Von der Decke hängen Fäden und transparente Tücher. Der Boden ist in eine textile Polsterlandschaft mit Sitz- und Liegehügeln verwandelt, die zur Hingabe an das Gefilmte einladen. Und zum Zeitvergessen. Beides will ich und richte mich ein. Mit Worten aus dem Off berichten die auf der Leinwand Agierenden von ihren Bedürfnissen nach sanfter Berührung, nach gemeinsam Ruhe wollen und finden. Energie und Wärme entsteht hier hier nicht durch aufreibendes Aneinander, sondern im Sich-einig-werden und Verbundensein.

„Ich denke, (meine Kunst) gibt uns grundlegende Werkzeuge an die Hand, wie wir soziale Beziehungen und Zustimmung auf eine mitfühlende Art und Weise handhaben können. Sie stellt die Fürsorge, das Gesehen- und Gehört-Werden und das Wissen um die eigenen Wünsche in den Vordergrund, und zwar jenseits der Konditionierung, die wir im kapitalistischen System erfahren, das von unserer Isolation und davon profitiert, dass es das Gehirn über den Körper stellt.“ Sagt Melanie Bonajo.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert