Entwicklung

Entwicklung schreiben wir uns gern zu: Entwicklung des Einzelnen; Entwicklung der Gesellschaft; Entwicklung der Menschheit. Leicht sind wir mit Augenscheinlichem und Oberflächlichem zufrieden. Hingegen schreibt der deutsche Theaterwissenschaftler Andreas Kotte in seiner „Einführung in die Theatergeschichte“ den keineswegs harmlosen Satz: „Theater entwickelt sich nicht, es wandelt sich nur“. Wenn die Bretter, auf denen Theater sich zeigt, wirklich die Welt bedeuten, woran ich nicht zweifle, muss Kottes These Konsequenzen haben.

Halten wir uns noch einen Moment bei den Begriffen auf. ‚Entwicklung‘, abgeleitet vom Substantiv ‚Wickel‘ – mittel- und althochdeutsch ‚Faserbündel‘ – wird seit dem 17. Jahrhundert für das ‚auseinander Wickeln‘ im Sinne von ‚Entfaltung‘ verwendet. ‚Wandlung‘, wie das ‚Wandern‘ dem althochdeutschen ‚wantön‘ als ‚wiederholtes wenden‘ im Sinne von ‚hin und her gehen‘ nahe, bedeutet hingegen schon seit dem 14. Jahrhundert – mittelhochdeutsch ‚wandelunge‘, althochdeutsch ‚wantalunga‘ – ‚völlige Veränderung‘ und ‚anderes Erscheinen‘ und ‚Umformung‘.

Mit diesem Hintergrund ist Kottes These ein Affront zur allüblichen Fortschrittsgläubigkeit und der Wachstumsgesellschaft als der erstrebenswerten Ordnung, in die wir uns (im Gegensatz zu vierlen vielen anderen) eingebettet fühlen. Beide scheinen unser SelbstBewusstsein zu stärken und den Optimismus für die Zukunft zu nähren. Tatsächlich greift aber Verunsicherung um sich und wir fühlen uns bedroht. Täuschen wir uns? Sollen wir die eigenen Zuwächse an Bequemlichkeit und Lebensqualität in Frage stellen? Sind sie unangemessen? Gewinnen oder verlieren wir mit ihnen Zeit?

Wenn sie sich nur auf Technologisches, auf Konsum und eigenes Wohlbefinden bezieht, machen wir uns tatsächlich etwas vor und zwar in vollem Bewusstsein unserer Fähigkeit, die Welt wahrnehmen zu können und der wachsenden Möglichkeiten, sie einzurichten. Dann wäre ‚Entwicklung‘ eine Sackgasse, denn nicht auf Zuwächse im Zählbaren und Geldwerten kommt es an, sondern auf die Fähigkeit, unseren Lebensraum mit Nachhaltigkeit zu füllen.

Ist Kottes These nach gründlicher Analyse der Theatergeschichte also vor allem eine Klar- oder Richtigstellung oder will sie, aus hochqualifizierter Sicht, auf ein prekäres Defizit hinweisen, das ein gesellschaftliches Defizit wäre mit wahrscheinlich tragischer Tendenz? Je nachdem, gewinnt das letzte der acht kotteschen Worte seine Bedeutung: dieses ‚nur‘.

Es fällt kaum auf und liest sich weg im raschen überfliegen. Doch ist es, je nachdem, ein wichtiger Hinweis oder eine mächtige Provokation! Ein Widerhaken, an dem wir hängenbleiben können. Oder das ganze Theater. Oder die ganze Menschheit. Denn dieses ‚nur‘ spielt, je nachdem, in schönster Bühnenmanier entweder die ‚Wandlung‘ in den Vordergrund und wertet sie auf: Wie vollständig wir uns auch verändern und umformen, wir bleiben wie und bleiben wo wir sind, im Übersichtlichen und relativ Sicheren. Wachstümler und Fortschrittler der schlichten Art muss diese Perspektive empören. Aber wo anders als auf dem Raumschiff Erde könnten sie denn leben?

Oder dieses ‚nur‘ deutet die Notwendigkeit an, den verkrüppelten Begriff der ‚Entwicklung‘, so wie er heute grassiert, einer Wiederaufwertung unterziehen zu müssen, bis sie wieder zum Quell der Nachhaltigkeit wird. Sehen wir uns um und sehen wir uns an und riskieren den Blick in den Spiegel und zur Bühne und lassen ihn dann frei …