„da Sta“

Ein Ereignis, lese ich, ist der Übergang von einem Zustand in einen anderen. Ein Ereignis war heute die Lesung der 39jährigen Natascha Gangl zu den Tagen der deutschsprachigen Literatur, die mich kaum noch interessieren. Zufällig hatte ich den Fernseher und den Sender 3sat eingeschaltet, zufällig auf einmal, live aus dem fernen Klagenfurt, ihr Gesicht vor Augen, aus dem ein Text sprach, der sofort meine Aufmerksamkeit fokussierte. In seiner Eigenart rief er gleichzeitig Erinnerungen an die Anfänge der vor 49 Jahren erstmaligen Veranstaltung hervor, bei der, verbunden mit einem literarischen Wettbewerb alljährlich der Ingeborg-Bachmann-Preis für vielversprechendes Geschriebene verliehen wird. Experten spüren es seither auf und geben den Autorinnen und Autoren, ganz im Geist der Namensgeberin des Preises, eine Bühne.

In fast fünf Jahrzehnten hat die Veranstaltung sich zur Institution etabliert, hat sich eventisiert und einen stabilen Zustand erreicht. Mit der eingeführten Begrifflichkeit heißt das allerdings, dass sie kein Ereignis mehr ist. Eingebettet in Bestsellerlisten, Buchmessen und Verlagsstrategien ist der Bachmann-Wettbewerb für den Literaturbetrieb heute eine marginale Arabeske. Die Talentesucher sind jetzt als Scouts unterwegs, und ich bin mir nicht sicher, wer heftiger hinter wem her ist.

Sprachfähig sind nach wie vor alle, die in Klagenfurt lesen. Den Unterschied macht ihre Sprachgewandheit (wie gut etwas besprochen wird) und ihre Sprachgescheitheit (was zur Sprache kommt). Weil Natascha Gangl eine Sprachkünstlerin ist, muss sie gar nicht viel versprechen(d sein). Stattdessen bringt sie, anders als andere, mit ihren Worten etwas in die Welt, das dort, wo wir grad uns und sie verlieren, Zukunft offen hält.

Aus der kleinen Stadtgemeinde Bad Radkersburg am südöstlichen Zipfel der Steiermark ging Natascha Gangl erst nach Wien, um Philosophie, dann nach Graz, um Szenisches Schreiben zu studieren. Anschließend lebte sie vorübergehend in Mexiko und Spanien. 2013 wurde sie Hausautorin am Staatstheater Mainz, schrieb und schreibt Theatertexte, Prosa und Essays und erfand mit der Elektroakustik-Band Rdeča Raketa eine neue Art von Hörstücken, die sie Klangcomic nennt. In Berlin (2018) und vom Österreichischen Rundfunk (2020) erhielt sie dafür Hörspielpreise.

„da Sta“ heißt der Klagenfurter Text, an dem ich mühelos schon am Titel kapitulieren könnte: ‚der Star‘? oder ‚das da‘? oder ‚da steh‘? oder ‚dastehn‘? Dass ich da nicht scheitere, liegt nur an ihr. Sie lässt mich nicht. Sie fasziniert mich. Und ihre Leseweise. Beides gleichermaßen. Kunstvoll trägt sie vor, trägt mir zu, was ihr wichtig ist und mir wichtig sein soll. Nicht gegen meinen Willen, sondern dass der ihre mittels ihrer wunderbaren Mündlichkeit in mir entsteht.

Gegenstand ihres Textes ist ein Kriegsverbrechen Ende des Zweiten Weltkriegs in der Grenzregion der Steiermark. Vor allem „der Stein“ heißt der Titel für Natascha Gandl. Auf den sie mich mit ihrem Vortrag, wie er bester Lyrik zusteht, setzt. Heiß und kalt. Er und ich. Und sie?

Während die von allen Wortgewässern verwaschene Jury nach Worten sucht, um den Vortrag einzuordnen und sie nicht findet, nicht finden kann, weil es für Ereignisse keine Schublade gibt, kommt mir Natascha Gangl im Nachhall ihrer Stimme entgegen, holt mich ab und nimmt mich einfach mit, lässt kein Zögern gelten, keine Vorsicht walten. Mit ihren außerordentlichen Sprachkunst legt sie mir so einfach einfach so das Ungeheuerlichste vor, das „da Sta“ aufbewahrt wie ein Speicherchip. Für ihn bin ich der Grund und ich für sie das Mittel, ihn weiter zu bewegen, mich weiter zu bewegen, ahnungslos wohin.

Weil sich heuer nichts annähernd Ähnliches ereignet, gibt die Jury schlussendlich ihr in diesem Jahr den Preis. Dafür entscheidet sich auch das Publikum.

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