gescheit ert

Wie jedes Schreiben sind auch die Texte auf diesem Blog ein Anschreiben gegen Vergänglichkeit. Die unumgänglich ist. An der ich scheitern muss. Diese Einsicht verknüpft das Christentum erbarmungslos mit einem Leidensweg. Was wäre, wenn ich, anstatt ihn abzulaufen, das Scheitern kultiviere? Das ist die Idee.

Gescheitert bin ich schon in Kinderschuhen, alsdann in Klassenzimmern, in Beziehungen und immer wieder an Möglichkeiten und Erwartungen. Irgendwann fing ich an, mich im Scheitern wie in einem Schicksal einzurichten und schob die eigene Verantwortung von mir. Was geschah, schrieb ich Wahrscheinlichkeiten und Umständen zu. Bis ich im Wort gescheitert das Wort gescheit entdeckte.

Was für ein Desaster! Was für eine Chance!

Das Partizip gescheitert geht auf das althochdeutsche scheiden zurück, das bis heute spalten und trennen bedeutet. Das Substantiv Scheit, im Plural Scheite oder Gescheit, benennt gespaltenes Holz. Das Wort zerscheitern mit der Bedeutung von in Stücke gehen kam im 17. Jahrhundert in die Sprache. Schiffe zerscheiterten, wenn sie an Klippen zerschellten. Hingegen bewahrte das mittelhochdeutsche schīden, bevor es wieder aus dem Sprachgebrauch verschwand, im Wort gescheit die Bedeutung von unterscheiden (können), von deuten und von Entscheidungen treffen auf.

Ideen, sagt der französische Philosoph Gilles Deleuze, entstehen an dem Punkt, wo Wissen in Nichtwissen übergeht, dort, wo ich, denkend und handelnd, keine Gewissheit mehr habe. Dann sollte ich, soll aus dem Denken und Handeln etwas Brauchbares werden, zuerst in der Sprache, in den Begriffen, für möglichst viel Gewissheit sorgen. Hast du weder den Begriff noch die Idee, bleibst du dumm und das war’s, sagt Deleuze.

So gesehen ist es dumm, scheitern und gescheit als Antonyme, als Gegensatzpaar, zu betrachten. Wenn nämlich beide sich komplettieren, wenn sie einander notwendig sind, muss ich im Scheitern nicht unbedingt leiden. Das hängt dann davon ab, wie gescheit ich scheitere.

Biodiversität, Wechselwirkung, Gleichgewicht‚ Rhizom, ökologischer Fußabdruck, Verantwortung, Vertrauen, Neugier, Kreativität, Perspektivwechsel und nicht zuletzt das sartre’sche gemeinsame Individuum sind Begriffe, um die sich in meinem Gehirn wie um Knotenpunkte herum im Laufe der Zeit ein virtuelles Muster ausgebildet hat. Aus ihm heraus wird mein Leben sichtbar, fassbar, wirklich. Zwar bleibt das Scheitern darin was es ist, doch sehe ich tagtäglich – je nachdem wie gescheit oder dumm es ist – die unterschiedlichen Auswirkungen.

Das nimmt viel Druck aus dem Kessel. Ich muss nicht ständig up to date sein und alles richtig machen. Ich muss nicht fortwährend Wachstum generieren, Ziele erreichen, Rekorde brechen. Ich muss nicht alles tun, was geht. Ich darf auch vieles bleiben lassen.

Gescheit gescheitert fühle ich mich, wenn ich mir als ‚großartige Kleinigkeit‘ vorkomme. Zum Beispiel wenn sich im 75. Lebensjahr der Anfangsverdacht auf ein Prostata-Karzinom nicht bestätigt, ich auf einer Frühlingswiese immer noch Kroküsse sehe und PJ Harvey höre.