Das Wort ‚lumbung‘ kam im Sommer 2022 als Motto der „documenta 15“ aus dem globalen Süden in Europas Mitte. 100 Tage lang verschaffte es dem seit den Brüdern Grimm von Wörtern wimmelnden Kassel eine neue Perspektive.
Im frühen Mittelalter war die Stadt Königshof, im Spätmittelalter Hauptresidenz der Landgrafschaft Hessen, von 1805 bis 1813 Hauptstadt des von Napoleon ausgerufenen Königreichs Westphalen, in Zeiten des Nationalsozialismus Waffenschmiede für Panzer („Rheinmetall“), Wehrmachts-LKWs („Mercedes-Benz“) und Flugmotoren („Volkswagen AG“). 1949 wollte Kassel Hauptstadt der Bundesrepublik werden.
‚lumbung‘ heißt in Indonesien ‚Reisscheune‘. In ihnen lagert die Dorfbevölkerung ihre Ernteerträge ein, um sie bis zur nächsten Ernte nach Bedarf und Notwendigkeit in der Gemeinschaft zu verteilen. Als Motto der KunstSchau steht das Wort für ein strategisches Lebenskonzept des Miteinander-Teilens.
Anfang 2019 wurde die mit ‚lumbung‘ vertraute indonesische Künstlergruppe „ruangrupa“ ausgewählt, um die „documenta 15“ zu kuratieren. „Wir ernennen ruangrupa, weil sie nachweislich in der Lage sind, vielfältige Zielgruppen – auch solche, die über ein reines Kunstpublikum hinausgehen – anzusprechen und lokales Engagement und Beteiligung herauszufordern“, begründete eine Findungskommission ihre Wahl. „In einer Zeit, in der innovative Kraft insbesondere von unabhängigen, gemeinschaftlich agierenden Organisationen ausgeht, erscheint es folgerichtig, diesem kollektiven Ansatz eine Plattform zu bieten.“
lumbung-Werte sind: lokale Verankerung, Humor, Großzügigkeit, Unabhängigkeit, Transparenz, Genügsamkeit und Regeneration. Nicht Reichtum. Nicht Wachstum. Nicht Eigentum. Das ist in einer Gegend, die mit einer Leitkultur liebäugelt, ein heikles Unterfangen. Beispielsweise legt sich ein inzwischen bundesweit bekannter Friedrich Merz seit dem Jahr 2000 vehement für eine Abgrenzung gegen ‚Multikulti‘ ins Zeug. Im selben Jahr gründete sich im fernen Djakarta „ruangrupa“.
Mit dem lumbung-Motto entzog Kassel die Kunstschau erstmals dem globalen Kunstmarkt und legte sie vertrauensvoll in kreative Hände, die ihr Am-Leben-sein nicht als Event feiern, sondern in gescheiter Absicht, noch lange am Leben zu bleiben, die Erde mit Mut und Leidenschaft der Zukunft zuliebe zu bearbeiten. ‚lumbung‘ ist das Zauberwort dafür.